Pulverfass Meer: Weltkriegsmunition soll raus aus dem Wasser
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/OVAGTCDVOA6KFLGOVOREFLVKQE.jpg)
Altmunition liegt auf einem Räumungsschiff, die vor Borkum gefunden wurde.
© Quelle: Heinrich Hirdes GmbH/dpa
Berlin. Der Meeresboden in der Ost- und Nordsee ist an vielen Stellen übersät mit tickenden Zeitbomben. „In der Kieler Bucht liegen in Sichtweite beliebter Strände Torpedokopf neben Sprengmine“, sagt der Meeresbiologe Matthias Brenner vom Alfred-Wegener-Institut Helmholtz Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI). Der Großteil davon stammt aus dem Zweiten Weltkrieg. Allein auf deutschem Gebiet sollen insgesamt 1,6 Millionen Tonnen an konventionellen Waffen und 300.000 Tonnen chemischer Waffen in der Ost- und Nordsee liegen. „Das ist gewaltig, was da liegt“, sagt Brenner.
Im Auftrag der Alliierten sollten Fischer nach dem Zweiten Weltkrieg die Kampfmittel weit draußen auf See versenken. Nach Angaben des Fraunhofer Instituts ist viel Munition aber auch außerhalb der markierten Gebiete über Bord gekippt worden – womöglich um Treibstoff zu sparen. Durch Meeresströmungen und Grundschleppfischerei landeten Minen und Bomben auch an Orten, wo sie eigentlich nie hin sollten. Das macht es schwierig, sie heute wiederzufinden. Beim Bau von neuen Pipelines oder Off-Shore-Windparks stoßen Unternehmen nicht selten auf solche Kampfmittel.
Viele Bomben können explodieren
70 Jahre lang habe es kaum jemanden interessiert, was in den Meeren vor sich hin rostet. „Am besten rührt man es nicht an. Das zersetzt sich sowieso, hieß es lange“, sagt Brenner. Dass das falsch war, sehe man heute: Viele Bomben können immer noch explodieren. Mit der Zeit werden sie sogar immer empfindlicher. Eine geringe Druckänderung oder ein Schlag können sie zum Explodieren bringen. „Die Munitionskörper sind teilweise komplett verrottet. Aus anderen tritt Sprengstoff aus“, sagt Brenner. Diese giftige Substanzen gelangen ungehindert ins Meer. Die Folgen für die Umwelt sind erheblich.
Das AWI und Partner haben in dem Projekt „Chemsea“ vor einigen Jahren die Auswirkungen von chemischen Waffen auf die Umwelt erforscht. Wie Meeresbiologe Brenner sagt, konnten bei 10 bis 13 Prozent des Speisefisches Ostseedorsch Stoffe von chemischen Waffen im Filet nachgewiesen werden. Die Menge sei zwar gering. „Es kann aber sein, dass so ein Fisch auch auf dem Teller landet“, sagt er. Inwiefern diese geringen Mengen Auswirkungen auf den Verbraucher haben, sei noch nicht erforscht.
35.000 Tonnen Munition in der Kieler Bucht
Im Februar endet das Nachfolgeprojekt „Daimon“ (Decision Aid for Marine Munition), wieder in Zusammenarbeit mit nationalen wie internationalen Partnern. Anfang Februar fand die Abschlusskonferenz des Projekts in Bremerhaven statt. Die Forscher hatten den Effekt von konventionellen Waffen auf die Umwelt untersucht. Das Thünen-Institut für Fischereiökologie hat den Plattfisch Kliesche unter die Lupe genommen, der am Meeresboden in der Kieler Bucht lebt. In diesem Gebiet liegen etwa 35.000 Tonnen konventioneller Munition wie Thomas Lang, stellvertretender Leiter des Instituts, sagt.
Bei 25 Prozent der Exemplare fanden die Forscher Lebertumore. In unbelasteten Gebieten liegt die Quote dagegen bei nur 5 Prozent. „Am Boden gibt es TNT-Klumpen, die sich im Wasser lösen. Die Abbauprodukte gelangen über das Wasser oder die Nahrung in den Organismus“, sagt Lang. Laborversuche haben gezeigt, dass die Abbauprodukte von TNT die DNA von Fischen schädigen, was eine mögliche Erklärung für die hohe Tumorrate sei. Gefischt und vermarktet werde die Kliesche allerdings nicht, so dass für den Menschen keine Gefahr bestehe.
Risiko für Schifffahrt und Windkraftanlagen
Neben Umweltschützern hat allerdings auch die Wirtschaft ein Interesse daran, den Meeresboden von Munition zu befreien. „Die Munition stellt ein Risiko für die Schifffahrt dar und für den Bau von Windkraftanlagen und das Verlegen von Seekabeln“, sagt Lang. Taucher sind daher laufend damit beschäftigt, Fahrrinnen von Minen zu befreien, die eigentlich als unbelastet galten.
Ein Zusammenschluss aus Forschungseinrichtungen und Firmen entwickelt mit dem Netzwerk „Munitect“ zur Zeit ein System, um Altmunition besser aufzufinden und zu kartieren. Mit Sonartechnik und Magnetsonden kann der Kriegsschrott heute schon recht gut aufgespürt werden. Allerdings seien diese Verfahren so teuer, dass sie nur stichprobenartig und in vorher bestimmten Gebieten eingesetzt werden können, heißt es auf der Webseite des Netzwerks, welches vom Fraunhofer-Institut für Graphische Datenverarbeitung (IGD) koordiniert wird.
Lärmschäden für Tierwelt
Bei diesen Stichproben werde fälschlicherweise auch herkömmlicher Schrott aufgespürt. „Die genaue Identifizierung von gefährlichen Minen und Munitionskörpern ist sehr schwierig und wird sehr oft heute noch von Tauchern durchgeführt“, erklärt Kristine Bauer, Netzwerkkoordinatorin am Fraunhofer IGD. „Munitect“ habe das Ziel, in Zukunft größere Bereiche effizienter und treffsicherer absuchen zu können.
Oft werden die gefundenen Sprengkörper an Land gebracht und fachgerecht beseitigt oder – wenn sie nicht mehr transportfähig sind – gesprengt. Schon geringe Druckänderungen können die Bomben zum Explodieren bringen. „Dass der Kampfmittelräumdienst die Bomben irgendwohin transportiert und dann im Meer sprengt, ist nicht in unserem Sinne“, sagt Brenner. Die Giftstoffe würden nur großflächig in der See verteilt. „Was in die Ostsee hineinkommt, bleibt eben in der Ostsee“, sagt er. Zudem bedeute jede kontrollierte Sprengung auch Lärmschäden für die Tierwelt. In der Ost- und Nordsee leben etwa auch Schweinswale und Seehunde. „Wir postulieren, dass emissionsfrei geborgen wird“, sagt Brenner.
Roboter soll Munition entschärfen
Das Fraunhofer Institut und die Universität Leipzig arbeiten gemeinsam mit Partnern aus der Wirtschaft an genau solch einer Lösung. Zukünftig soll ein Roboter Munition am Meeresgrund vollautomatisch entschärfen und ohne Sprengung entsorgen. Die Maschine soll anschließend nur mit Metallschrott an Land zurückkehren können.
Konzept für Bergungs- und Entsorgungsverfahren
Kampfmittelräumdienste, wie das Unternehmen Boskalis Hirdes arbeiten heute schon mit ferngesteuerten Unterwasserrobotern mit Kameras. Diese legen die Kampfmittel frei, Fachleute begutachten sie und entscheiden, was mit ihnen passieren soll. Ziel sei es, den Menschen ganz aus der Räumung herauszunehmen.
Das Unternehmen will ein Konzept des robotischen Bergungs- und Entsorgungsverfahrens („RoBEMM“) im März vorstellen. Wie Andreas Jeron von Boskalis Hirdes sagt, sollen mit „RoBEMM“ nicht transportfähige Kampfmittel geräumt werden, die derzeit noch vor Ort gesprengt werden müssen. „Mit weniger negativen Auswirkungen auf die Umwelt.“
Von RND/dpa/Juliane Görsch