Disease-Interception – die Medizin der Zukunft

Ein Mann verlässt den Haupteingang des Uniklinikums Essen in Nordrhein-Westfalen.

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Was ist, ganz kurz mit Ihren Worten erklärt, Disease-Interception?

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Disease-Interception umschreibt das Konzept, zu verhindern, dass eine Krankheit ausbricht. Bei uns in Deutschland basiert das Leistungsrecht in der gesetzlichen Kranken­versicherung darauf, dass eine Krankheit bereits ausgebrochen ist. Disease-Interception greift viel eher ein. Die Methodik lässt sich vergleichen mit den genetischen Erkrankungen, etwa den genetischen Brustkrebs­varianten. Durch die Kenntnis der genetischen Prädisposition weiß man, dass bei einigen Frauen ein sehr hohes Erkrankungsrisiko vorliegt. Disease-Interception möchte, bevor überhaupt eine Erkrankung ausgebrochen ist, eingreifen, um zu verhindern, dass die Erkrankung entsteht.

Dr. Anke Diehl ist Chief Transformation Officer an der Universitäts­medizin Essen und zuständig für die neuartige Disease-Interception.

Dr. Anke Diehl ist Chief Transformation Officer an der Universitäts­medizin Essen und zuständig für die neuartige Disease-Interception.

Entspricht das dem Ethos der antiken chinesischen Medizin, wo die Ärzte dafür bestraft wurden, wenn Menschen erkrankten – also Prävention als Kunst der Medizin?

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Prävention ist das eine. Aber sie weist ja prioritär darauf hin, dass bestimmte Verhaltensformen, zum Beispiel nur Süßes und Fettiges zu essen, ein erhöhtes Risiko für beispielsweise Herz-Kreislauf-Erkrankungen darstellen. Es geht also um Vorbeugung von vermeidbaren Konstellationen, die Erkrankungs­verläufe beziehungsweise deren Entstehung begünstigen.

Bei Disease-Interception geht man auch davon aus, dass es nicht um vermeidbares Verhalten geht. Es geht vielmehr darum, dass ich frühzeitig feststelle: Da könnte eine Erkrankung ausbrechen. Und dann ist eben die Frage, wenn Medizin und Wissenschaft so weit sind, einen in der Zukunft zu erwartenden Krankheits­ausbruch nicht nur zu diagnostizieren, sondern vielleicht auch zu therapieren oder verhindern zu können, ob der Einzelne dann einen Anspruch auf Übernahme dieser Leistungen durch die gesetzliche Krankenversicherung hat.

Die gesetzliche Krankenversicherung beruft sich ja normalerweise auf den relevanten Nutzen einer medizinischen Maßnahme, also auch auf die Verringerung von Morbidität und Mortalität, um zu entscheiden, ob eine Leistung in den Leistungskatalog aufgenommen wird.

Das sind die zwei Themen, um die sich dieses Projekt mit dem Institut für Sozial- und Gesundheitsrecht der Ruhr-Universität Bochum dreht. Der Bereich, in den wir als Universitäts­medizin Essen verstärkt involviert sind, ist die Disease-Interception im Kontext von Digitalisierung, künstlicher Intelligenz und Big Data. Diese neuen Forschungsfelder haben hier eine steigende Bedeutung, weil möglicherweise Datenforschung oder KI-Algorithmen frühzeitig aufzeigen, dass Erkrankungen ausbrechen werden.

Sind wir denn bereits technisch reif für eine solche Entwicklung der Medizin?

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Wir sehen es als unsere Aufgabe als Universitäts­medizin an, diese anderen ethischen Forderungen und die Diskussion darüber voranzutreiben, genauso wie die Patienten­orientierung auch. Und das insbesondere im Kontext von Digitalisierung und KI, wo wir ja extrem aktiv sind, mit einem eigenen Institut für künstliche Intelligenz in der Medizin und großen Forschungs­projekten. Unser Ziel ist es, einen konkreten Vorschlag einzubringen, wie man das bestehende Kranken­versicherungs-Leistungs­spektrum erweitern kann, um eben das Konzept der Disease-Interception im Kranken­versicherungs­recht aufzugreifen. Aber bei der Frage, ob wir bereits reif sind für eine solche Medizin­systematik, geht es ja nicht nur um die technischen Voraussetzungen.

Es gibt ja das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit, was auch ein Argument für eine notwendige geänderte Ausrichtung unserer Gesundheits­versorgung ist. Genauso wie das Grundrecht auf Nichtwissen. Das betrifft natürlich auch die genetische Diagnostik. Also dass Patient und Patientin entscheiden können, was sie über sich selbst wissen wollen und welche Implikationen das hat. Das verändert auch das Arzt-Patienten-Verhältnis, etwa beim Brustkrebs. Da gibt es beispielsweise Entscheidungs­hilfen, die systematisch in Patienten­gesprächen den Standpunkt der Patientin und auch die medizinische Sichtweise erörtern. Und wenn man dann gemeinsam entscheiden muss, wie mit diesem Wissen umzugehen ist – wie geht man da vor? Das ist eine medizinethische Fragestellung, die die Medizin genauso interessiert wie die Patienten. Darauf müssen wir reagieren und das sehen wir in diesem Datenkontext eben auch als unsere gesamt­gesellschaftliche Verantwortung.

In Deutschland scheint die Debatte offen, ob Gesundheits­schutz vor Datenschutz zu gehen hat. Würden Sie sagen, der Datenschutz ist eine der größten Hürden der Disease-Interception, oder ist es eher das Problem mit der Digitalisierung?

Der Datenschutz spielt natürlich immer dorthinein, wo es darum geht, personen­bezogene Daten auszuwerten und in einem Kontext weiter zu erforschen. Es ist für uns derzeit so, dass wir nur mit den Patientendaten, die wir selbst haben, entsprechend forschen können. Wenn jemand mehrfach bei uns war, kann man eine Zeitreihe aufstellen und in einem Kontext gucken, ob sich bestimmte KI-Algorithmen darauf ansetzen lassen. Es gibt allerdings natürlich auch anonymisierte Datensätze, mit denen man Algorithmen trainieren und weiter erforschen kann. Der Datenschutz an sich spielt in diesem Projekt eine eher untergeordnete Rolle. Es geht wirklich darum, welche Implikationen sich aus der Erforschung von Gesundheitsdaten ergeben. Also kann ich anhand von bestehenden Daten irgendwann prognostizieren oder mit Sicherheit vorhersagen, dieser Mensch wird in 20 Jahren die und die Krankheit entwickeln? Ein wichtiger weiterer Aspekt ist aber die sogenannte Datenspende. Das bedeutet, dass man seine Gesundheitsdaten der Forschung freigibt, damit datenbezogene Forschung ermöglicht wird.

Das klingt plausibel, dass man als Patient künftig eine Erlaubnis für die Erforschung der eigenen Daten erteilt. Nun sind die Bürgerinnen und Bürger vielleicht in den sozialen Netzwerken freigebig mit ihren Daten, aber glauben Sie, dass das ausgerechnet bei medizinisch relevanten Daten auch so sein wird?

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Ich glaube, den meisten Bürgerinnen und Bürgern in Deutschland ist gar nicht bewusst, wie viele Daten von ihnen überall unterwegs sind – und dass diese Daten ständig mit künstlicher Intelligenz ausgewertet werden. Ein gutes Beispiel sind Bonuskarten, und natürlich akzeptieren wir auch schnell mal alle Cookies auf einer Internetseite – und natürlich arbeitet dort dann im Hintergrund der entsprechende KI-Algorithmus. Und niemanden wundert es, am Rechner entsprechende Vorschläge auf Basis des Nutzungsverhaltens zu bekommen.

Die Diskrepanz zwischen privater Datensorglosigkeit und medizinischer Scheu vor Daten thematisieren wir auch. Dabei spielt der Begriff „broad consent“ (weitreichende Einwilligung, d. Red.) eine Rolle. Dabei geht es darum, dass der Patient einwilligt, dass die Daten, die im Rahmen der Behandlungen an einer der teilnehmenden Universitätskliniken anfallen werden, in diesem Forschungs­kontext mit anderen Universitäts­kliniken ausgewertet und genutzt werden dürfen. Den „broad consent“ zu erstellen hat mit den zuständigen Landesdaten­schutzbehörden drei Jahre gedauert. Ergebnis ist ein achtseitiges Formular, dem die Patientinnen und Patienten zustimmen können.

Eine Unterschrift unter ein medizinisches Formular ist das eine, ein Grundverständnis für die Sache etwas anderes.

Ich frage mich wirklich häufig: Kann der Patient das überhaupt verstehen? Wir wollen ja nicht Daten sammeln und verkaufen. Es geht uns wirklich um die medizinische Forschung und Nutzung – die Daten sind eben nicht im Hinblick auf Personen relevant. Aber natürlich brauche ich zum Teil den Kontext eines einzelnen Krankheits­verlaufes, sonst kann ich die Daten für manche Fragestellungen nicht nutzen. Es geht aber nicht um den persönlichen Bezug, sondern es geht um den Verlaufsbezug. Das ist manchmal nicht so genau trennbar.

Natürlich ist Datenschutz sehr wichtig, niemand will ihn über Bord werfen. Und keiner von uns will diesbezüglich asiatische Verhältnisse. Aber in der Tat wäre es wünschenswert, dass die Bürgerinnen und Bürger verstehen, dass medizinische Forschung zunehmend auf Gesundheitsdaten beruht und dass das wichtig ist und einen gesamt­gesellschaftlichen Nutzen hat. Von ähnlicher Bedeutung ist auch die Debatte, die daraus folgt: Wenn ich das eigene Krankheitsrisiko kenne, muss ich dann gegenüber der Versicherten­gemeinschaft gewisse Verhaltensweisen und Unterlassungs­pflichten an den Tag legen?

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Im Grunde haben wir diese Diskussion momentan mit den Corona-Tests und den Impfungen. Warum soll die Versicherten­gemeinschaft Leistungen übernehmen, wo das Individuum doch eigentlich durch Inanspruchnahme der Impfung von diesen persönlichen Zuzahlungen für Tests entsprechend befreit ist und gleichzeitig auch noch das Gesamtprojekt, nämlich die Bekämpfung der Ausbreitung der Viruserkrankung, dann für die ganze Gemeinschaft maßgeblich positiv beeinflussen kann?

Hat denn Corona zu einem besseren kollektiven Verständnis für die Nutzung medizinischer Daten geführt oder ist das noch genauso schwierig zu vermitteln wie vor der Pandemie?

Ich glaube, gerade der Bereich künstliche Intelligenz in der Medizin ist für viele eine Blackbox und verbreitet irgendwo Angst. Da haben wir als Medizin, aber auch die Gesundheits­politik, natürlich die Verpflichtung, das zu thematisieren.

Was die Digitalisierung insgesamt und die Nutzung von digitalen Services sowie Apps anbelangt, habe ich wirklich eindeutig das Gefühl, dass die Pandemie die Dinge positiv vorangetrieben hat.

Man sieht es eher als positiven Service an, digital Kontakt aufzunehmen oder entsprechende Apps zu nutzen. Auch meine 80-jährige Mutter hat ihr Impftestat auf dem Smartphone und war ganz glücklich, als sie ihr gelbes Buch nicht mehr mitnehmen musste.

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Vor der Pandemie wäre so etwas oder auch eine App wie Luca eher schwierig gewesen, glaube ich.

Ich bin überzeugt, dass Corona die Haltung der Bürgerinnen und Bürger gegenüber digitalen Services positiv beeinflusst hat. Ähnlich sollte es auch mit der zentralen Speicherung von Gesundheitsdaten und deren dezentralem Abruf laufen. Spätestens, wenn die elektronische Patientenakte für Bürger und Bürgerinnen kommt, wäre das ein riesiger Schritt in die richtige Richtung – einer, der meiner Ansicht nach längst überfällig ist.

Wenn Sie sich die Entwicklung der Disease-Interception in ein paar Jahren anschauen, glauben Sie, dass der Schwerpunkt eher auf der Diagnostik liegen wird oder eher auf einer Entwicklung von Medikationen?

Für dieses Projekt und den Schwerpunkt auf Digitalisierung und KI ist es eindeutig die Diagnostik. Es gibt große Pharma­unternehmen, die sich die Disease-Interception schon auf die Fahnen geschrieben haben. Die werden dann voraussichtlich die Entwicklung von Medikamenten vorantreiben, um das Ausbrechen von Krankheiten aufzuhalten. Das ist wieder ein ganz anderer Ansatzpunkt.

Da kommen wir dann wahrscheinlich wieder in diese Diskussion der Evidenzbasierung im Leistungsrecht der gesetzlichen Kranken­versicherungen. Dort heißt es dann: Na ja, was spare ich dadurch ein, dass so ein Mittel die Mortalität und Morbidität entsprechend verringert? Lohnt sich der Kostenaufwand für das Medikament im Verhältnis zu dem, was man einspart, wenn diese Krankheit nicht ausbricht?

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Nehmen wir eine Volkskrankheit wie Diabetes Typ 2. Gäbe es ein Medikament, das man den Leuten mit 35 Jahren verabreicht und das sie dann immer schlucken, und damit fielen sowohl die teuren gesundheitlichen Folgeschäden von Diabetes Typ 2 weg, dann kann ich mir gut vorstellen, dass das wahrscheinlich von wirtschaftlichem Nutzen wäre. Wir sehen das auch gerade während der Corona-Pandemie. Eine Impfstoff­entwicklung ist sehr teuer, aber trotzdem ist es viel günstiger, alle Welt zu impfen, als den Fortlauf der Pandemie zu tragen.

Sie tragen den Titel Chief Transformation Officer in Essen. Der sagt ja auch schon einiges aus. Es ist also eine Transformation der Medizin, die ansteht und die ja augenscheinlich auch notwendig ist. Wie zeigt sich das im klinischen Alltag?

Einerseits vernetzen wir uns im Alltag stets und ständig – intern wie auch extern. Wir arbeiten mit Forscherinnen und Forschern übergreifend themenbasiert, etwa bei Krebsforschungs­zentren. Aber was uns besonders auszeichnet, ist, dass wir interdisziplinär und berufsgruppen­übergreifend auf Augenhöhe arbeiten, und das ist, glaube ich, in der Medizin doch etwas, was relativ neu ist. Die ITler bei uns sind zum Beispiel nicht die Kellerkinder! Wir haben das Glück, ausgezeichnete Informatiker zu haben, von denen einige auch doppelt studiert haben – Informatik und Medizin. Und wir diskutieren wirklich viel. Dann haben wir einen eigenen Studiengang Pflege und Digitalisierung, wo wir auch stetig unsere eigenen Mitarbeitenden kostenfrei weiterbilden.

Und der Patient?

Wir wollen mit den und für die Patienten einen digitalen Kulturwandel im Krankenhaus erzielen – und somit natürlich auch eine empathische Medizin realisieren. Da sind wir meines Erachtens schon auf einem sehr guten Weg. Wenn man zum Beispiel zur Effizienz­steigerung Digitalisierung einsetzt, um mehr Zeit für die Kernkompetenz der Medizin, die Versorgung von Menschen, zu haben. Es geht nicht um den Einsatz von Robotern, sondern um effizientere und tatsächlich bessere Prozesse und Abläufe. Es geht darum, Behandlungs- und Diagnostik­daten verfügbar zu haben, und das eben auch dezentral, also die elektronische Patientenakte überall einzusetzen und die einzelnen Systeme miteinander zu verbinden. Daran arbeiten wir bei uns an der Universitäts­medizin Essen mit Hochdruck und haben schon etliche Dinge wie etwa Medikations­checks auf Kontra­indikationen automatisiert.

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Nun gibt’s ja leider bei uns auch noch so eine Art nationale Disposition, dass man über Gesundheit und Geld nicht redet. In den USA ist das gänzlich anders. Da hat sich vor ein paar Jahren Angelina Jolie auch geoutet mit ihrem Brustkrebs­risiko und den entsprechenden Konsequenzen, die sie gezogen hat. Diese Selbst­verständlichkeit, auch von Prominenten, darüber zu sprechen, das wäre doch sicherlich hilfreich.

Auch dass Frau Schwesig ihre Erkrankung so offen kommuniziert hat, war großartig. Die Diskussion macht uns stark und das Thematisieren von Ängsten, von Bedenken.

Wo sehen Sie sich – also die Forschung und die deutsche Klinikmedizin – in zehn Jahren?

Also ich habe leicht reden. Ich komme aus einer Topklinik, die auch international anerkannt ist. Wir waren jetzt unter den Top 10 der nicht amerikanischen Kliniken weltweit. Wir lagen auf Platz 28 weltweit, und 19 vor uns waren amerikanische Krankenhäuser. Insofern würde ich schon sagen, wir sind auf dem richtigen Weg. Ich hoffe, dass sich die Medizin in Deutschland mehr und mehr der Datennutzung öffnet. Auf der anderen Seite müssen wir aber nicht das Rad neu erfinden. Wir brauchen nicht überall Forschungs­zentren, sondern man kann auch die KI-Forschungs­ergebnisse der Unikliniken an kleineren Häusern anwenden und adaptieren. Ziel muss es sein, in der Medizin insgesamt die Hemmschwelle für die digitale Transformation zu senken.

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