Schutz vor Radioaktivität? Warum die Einnahme von Jodtabletten derzeit nicht sinnvoll ist
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Laut der Verbraucherzentrale werden im Ernstfall beispielsweise Erwachsenen Jodtabletten für eine einmalig einzunehmende Dosis von 130 mg Kaliumjodid (= 100 mg Jod) in zwei Tabletten ausgehändigt. Das ist 500-mal mehr als die täglich empfohlene Dosis.
© Quelle: dpa
Auf dem Gelände von Europas größtem Atomkraftwerk nahe der ukrainischen Großstadt Saporischschja soll es in Nacht von Donnerstag auf Freitag gebrannt haben – laut der Nachrichtenagentur AFP ist das Feuer schon wieder gelöscht. Die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) in Wien wurde eingeschaltet. Es gebe bisher keine Berichte über eine erhöhte Strahlung, hieß es. Dennoch sei die Situation ernst.
Noch immer setzt Russland seinen Angriffskrieg auf die Ukraine fort. Dabei wurden bereits zwei Atommülllager beschädigt. Zwei Kraftwerke, darunter das Unfallkraftwerk Tschernobyl und das noch betriebene Atomkraftwerk Saporischschja, wurden von russischen Soldaten eingenommen. Bei der Einnahme des Unfallreaktors Tschernobyl wurde jedoch radioaktiv belastete Erde aufgewirbelt. Die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) verurteilt Russlands Einnahme der Kraftwerke. Dadurch erhöhe sich das Risiko für einen Atomunfall mit internationalen Auswirkungen, hieß es.
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Auch in Deutschland sorgen sich nun viele Menschen, um die möglichen Gefahren, die von den radioaktiven Stoffen ausgehen. Jodtabletten sollen helfen – aber nur im Notfall. Und dieser ist noch längst nicht eingetreten. Daher warnen sowohl das Bundesumweltministerium und das Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) als auch der Deutsche Apothekerverband vor einer selbstständigen Einnahme. Diese hätte aktuell „keinerlei Nutzen“, heißt es vom Bundesministerium. Dennoch bleiben bei manch einem Fragen offen. Wieso hilft Jod überhaupt bei Radioaktivität? Wieso können die Tabletten auch gefährlich sein? Und wie realistisch ist es, dass wir Jodtabletten doch brauchen werden?
Warum hilft Jod bei Radioaktivität?
Bei einem Atomunfall kann es passieren, dass sich radioaktive Stoffe freisetzen – darunter radioaktives Jod. Nimmt der Körper dieses Jod auf, ob durch die Luft, durch Nahrung oder Wasser, „kann es sich in der Schilddrüse anreichern und die Entwicklung von Schilddrüsenkrebs befördern“, informiert das BfS. Durch das Einnehmen von nicht radioaktivem Jod in Form von hochdosierten Jodtabletten, könne das verhindert werden. Wichtig ist hierbei der richtige Zeitpunkt. Das nicht radioaktive Jod sättige dann die Schilddrüse, sodass sie das radioaktive Jod später nicht mehr aufnehmen kann – auch Jodblockade genannt. Demnach schützen Jodtabletten aber nur die Schilddrüse und bieten auch keinen Schutz vor anderen radioaktiven Stoffen, wie Cäsium oder Strontium.
Wie gefährlich sind Jodtabletten?
Durch die hohe Dosierung der Jodtabletten können sie auch einige Nebenwirkungen verursachen, informiert das BfS weiter. Erkrankungen der Schilddrüse sind in Deutschland recht weit verbreitet. Etwa jeder dritte Erwachsene ist nach Angaben des Deutschen Schilddrüsenzentrums im Laufe seines Lebens betroffen. Das kann bei der Einnahme von Jodtabletten ein Problem sein.
Denn einige Menschen leiden an einer Überfunktion der Schilddrüse (Hyperthyreose) ohne merkbare Symptome zu haben. Hohe Dosen Kaliumjodid können laut dem BfS dazu führen, dass doch Krankheitszeichen ausgelöst werden, die bis hin zu akutem Herz-Kreislauf-Versagen führen können. Außerdem seien auch weitere Nebenwirkung durch die Tabletten bekannt, beispielsweise Überempfindlichkeiten.
Daher rät das Bundesamt davon ab, die Tabletten eigenständig zu nehmen. Sie sollten „nur nach ausdrücklicher Aufforderung durch die Katastrophenschutzbehörden eingenommen werden“, schreibt das BfS. Menschen, bei denen eine Schilddrüsenerkrankung bereits bekannt ist, sollten die Einnahme solcher Jodtabletten mit ihrem behandelnden Arzt oder ihrer Ärztin vorher absprechen.
Wann nimmt man Jodtabletten am besten ein?
Sollte die Katastrophenschutzbehörde zu einer Einnahme der Tabletten auffordern, ist der richtige Zeitpunkt entscheidend. Nur dann könne die Jodblockade funktionieren. Werden die Tabletten zu früh eingenommen, kann das nicht radioaktive Jod nach Angaben des BfS bereits wieder abgebaut sein, bevor das radioaktive Jod die Schilddrüse erreicht. Dann wäre die Schilddrüse im Ernstfall nicht mehr ausreichend geschützt. Andersherum gilt auch, bei zu später Einnahme kann das radioaktive Jod bereits von der Schilddrüse aufgenommen worden sein. Der Schutz käme in diesem Fall zu spät.
Wann der richtige Zeitpunkt jedoch ist, erfahren Betroffene in einem Notfall von den Katastrophenschutzbehörden über die Medien. Eine einmalige Einnahme reiche dann in den meisten Fällen aus. Weitere Tabletten sollten ebenfalls nur nach Aufforderung der Behörden eingenommen werden.
Wann, wo und an wen würden Jodtabletten verteilt werden?
Für solche Notfälle hält Deutschland 189,5 Millionen Kaliumiodidtabletten (Jodtabletten) – verteilt auf die Bundesländer – bereit. Würde radioaktives Jod freigesetzt und in die Luft gelangen, würden die Katastrophenschutzbehörden die Tabletten in den betroffenen Gebieten verteilen. Wer genau betroffen ist, hängt von vielen Faktoren ab. Kann radioaktives Jod durch die Luft in eine Region gelangen, sind dessen Menge, die Entfernung vom Unfallort und die Wind- sowie Wetterverhältnisse entscheidend.
Bei einem schweren Unfall in einem Kernkraftwerk könnten in einem Umkreis von bis zu 100 Kilometern um das Kraftwerk Tabletten verteilt werden. In diesem Bereich würden diese für alle Personen bis 45 Jahren verteilt werden. Für das gesamte Bundesgebiet ständen Tabletten ebenfalls für Schwangere sowie Kinder und Jugendliche bereit. Die genaue Dosierung ist vom Alter abhängig. Personen über 45 Jahre wird von den Tabletten abgeraten, so das BfS. Für diese seien die Risiken der Tabletten größer als deren Nutzen.
Sollte dieser Fall eintreten, können Betroffene die Tabletten meist an Feuerwehrwachen, Rathäusern, Apotheken oder bekannten Wahllokalen abholen.
Wie realistisch ist es, dass wir Jodtabletten brauchen werden?
Derzeit gebe es nach Angaben des BfS vom Mittwochnachmittag „keine belastbaren Hinweise“, nach denen „bei den Kampfhandlungen in der Ukraine radioaktive Stoffe in erhöhtem Maße ausgetreten sind“. Radiologische Auswirkungen auf Deutschland seien demnach „nach dem Stand der verfügbaren Informationen nicht zu befürchten“. Auf Anfrage der Deutschen Presse-Agentur schrieb das Bundesumweltministerium außerdem: „Aufgrund der Entfernung zur Ukraine ist nicht damit zu rechnen, dass eine Einnahme von Jodtabletten erforderlich werden könnte.“
Radioaktives Jod habe außerdem eine Halbwertszeit von wenigen Tagen. Das bedeutet, dass nach wenigen Tagen bereits die Hälfte der Kerne eines radioaktiven Nuklids zerfallen sind. Das heißt ebenfalls, dass das Jod, das bei dem Reaktorunfall von Tschernobyl vor über 35 Jahren freigesetzt wurde, „mittlerweile vollständig zerfallen [ist] und deshalb nicht mit dem Wind nach Deutschland transportiert werden [kann]“, heißt es vom BfS.
Das BfS sowie das Bundesministerium verfolge die Situation aber weiterhin aufmerksam. Man stehe in engem Austausch mit internationalen Partnern wie der IAEA und überwache Messeinrichtungen regelmäßig. Sollte doch der unwahrscheinliche Fall eintreten und hierzulande eine Gefahr von den radioaktiven Stoffe ausgehen, informieren die entsprechenden Behörden darüber rechtzeitig durch die Medien.
35 Jahre nach Super-GAU: Gedenken an Tschernobyl
Vor 35 Jahren explodierte der Atomreaktor in der damaligen Sowjetunion.
© Quelle: Reuters
Was kann man noch gegen radioaktive Strahlen tun?
Neben der Einnahme der Jodtabletten gibt es laut dem Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) drei weitere Katastrophenschutzmaßnahmen im nuklearen Notfallschutz. Diese lauten:
- Verbleiben im Haus, dabei Türen und Fenster geschlossen halten
- Evakuierung
- Maßnahmen im landwirtschaftlichen Bereich (Aufnahme von Radioaktivität durch Nahrung verhindern)
Diese Maßnahmen wären jedoch vor allem bei inländischen Unfällen in Kernkraftwerken nötig. Bei einem Atomunfall in der Ukraine würde ein anderer Notfallplan in Kraft treten. Dann seien möglichweise vor allem Strahlenschutzvorsorgemaßnahmen im landwirtschaftlichen Bereich relevant. Ähnlich wie bei Tschernobyl im Jahr 1986.