Ist die Corona-Krise weiblich?

Hannover. Corona ist nicht fair. Das Virus, die Krankheit, die es auslöst und die Folgen, die daraus entstehen, treffen Männer und Frauen in unterschiedlichen Bereichen, unterschiedlich hart. In Deutschland etwa sind bisher mehr als 10.000 Menschen nach einer Corona-Infektion gestorben. Dass ein Großteil von ihnen älter als 70 Jahre alt war, ist hin und wieder Anlass für Diskussionen. Dass mehr als 1000 Männer mehr darunter waren, eher nicht.

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Besonders offensichtlich ist der Unterschied in einer Altersgruppe: Mit 1594 Todesfällen sind rund doppelt so viele Männer im Alter zwischen 70 und 79 Jahren an Corona gestorben als Frauen (Stand 3. November 2020). Aber auch bei den Jüngeren sind es konsequent mehr Männer, für die Covid-19 tödlich war. Erst in der Gruppe der 90-Jährigen und Älteren, dreht sich der Effekt spürbar um. (Was auch daran liegen mag, dass es in Deutschland generell mehr Frauen über 90 gibt.)

Der Schweregrad von Covid-19 ist bei Männern höher

Nicht nur in Deutschland sterben mehr Männer an Corona. „Berichte aus China, Europa und den USA zeigen, dass es ungefähr eine ähnliche Anzahl von bestätigten Sars-CoV-2-Fällen bei Frauen und Männern gibt“, schreiben Wissenschaftler um den Mediziner Franck Mauvais-Jarvis in einer im August erschienen Studie. Wenn man sich allerdings den Verlauf der Fälle anschaut, ergibt sich ein anderes Bild: Der Schweregrad von Covid-19 sei, gemessen an Krankenhausaufenthalten, Aufnahme in Intensivstationen, künstlichen Beatmungen und Tod, bei Männern weltweit „durchweg anderthalb- bis zweimal höher als bei Frauen“, so die Forscher. Warum das so ist, wissen Wissenschaftler noch nicht – auch wenn es einige überzeugende biologische und soziologische Theorien gibt. Sicher ist: Ein Mann zu sein, ist in der Pandemie ein Risikofaktor.

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Die Corona-Krise wiederum trifft dagegen eher die Frauen. Frauen bekämen die Auswirkungen der Pandemie deutlich stärker zu spüren als Männer, sagte UN-Generalsekretär António Guterres Anfang Oktober. Sie litten unter anderem unter einer „Schatten-Pandemie von geschlechtsbasierter Gewalt“. Laut einer weltweiten Studie der Kinderrechtsorganisation Save the Children aus dem September waren es Mädchen, die in der Corona-Krise weniger lernten und stärker im Haushalt mithelfen mussten.

In Deutschland wird seit Beginn der Krise darüber diskutiert, ob Corona gerade im Begriff ist, die Gleichberechtigung um Jahre oder sogar Jahrzehnte zurückzuwerfen. Denn, so argumentierte zum Beispiel die Sozialwissenschaftlerin Jutta Allmendinger im Mai in einem Gastbeitrag für „Die Zeit“, es seien überwiegend Mütter gewesen, die angesichts geschlossener Schulen und Kitas einen „Rückzug aus dem Arbeitsmarkt vornehmen, sich um Kinder und Küche kümmern“. Die Väter dagegen würden deutlich seltener zurücktreten.

Ärzte unterschätzen Unterschiede zwischen Mann und Frau

Die Krise wirke wie ein „Brennglas“, sagt die Designforscherin Gesche Joost. Sie glaubt aber nicht, dass die Corona-Krise zu einem Wiederaufleben alter Rollenmodelle geführt habe – vielmehr hätten sich bereits existierende Strukturen verschärft. Ähnlich ist es auch im Fall der Coronavirus-Erkrankungen. Die Erforschung von geschlechtsspezifischen Unterschieden in der Biologie und Medizin werde häufig als Spezialgebiet angesehen, schreiben der Forscher Mauvais-Jarvis und seine Kollegen. In der Corona-Krise zeigt sich erneut, warum das ein Fehler sein könnte. Eigentlich seien die Unterschiede zwischen den Männern und Frauen im Bezug auf Covid-19 nicht unerwartet, sagte Sarah Hawkes, Direktorin des Centre for Gender and Global Health am University College London, der „Washington Post“. Wenn überhaupt, zeige dies nur, dass auch Ärzte sie immer noch unterschätzten. Das hat Folgen – oft zum Nachteil der Frauen.

Was Kliniker über die Diagnose, Behandlung und Prävention von Krankheiten wissen, stammt aus Studien, die hauptsächlich an männlichen Zellen, männlichen Mäusen und Männern durchgeführt wurden.

Franck Mauvais-Jarvis,

Mediziner

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„Was Kliniker über die Diagnose, Behandlung und Prävention von Krankheiten wissen, stammt aus Studien, die hauptsächlich an männlichen Zellen, männlichen Mäusen und Männern durchgeführt wurden“, schreibt Mauvais-Jarvis. „Bikini-Medizin“ nennt der Experte diesen Irrglauben, dass Frauen sich von Männern nur hinsichtlich ihrer Geschlechtsorgane unterscheiden würden, in der „Washington Post“. In seiner Studie hat das Team um Mauvais-Jarvis deshalb den Einfluss des biologischen Geschlechts (sex) als auch des sozialen (gender) auf gängige Krankheiten wie Krebs, Alzheimer oder Diabetes zusammengetragen. Das Team will dadurch Forscher und Mediziner für diese Unterschiede sensibilisieren.

Unbezahlte Sorgearbeit der Frauen wird unterschätzt

Doch nicht nur Mediziner leiden diesbezüglich oft an blinden Flecken. Auch in vielen anderen Bereichen gelten Männer häufig immer noch als brauchbare Verkörperung des Standards. Frauen dagegen sind – obwohl sie die Hälfte der Weltbevölkerung ausmachen – häufig noch die Ausnahme von der Regel. Die britische Autorin Caroline Criado-Perez führt in ihrem Buch „Unsichtbare Frauen“ einige Beispiele für diese Ungleichheit auf: High-End-Smartphones etwa sind für Frauenhände zu groß, Crashtestdummys orientierten sich jahrzehntelang am durchschnittlichen Mann, was Autofahren für Frauen tödlicher macht. Bushaltestellen oder öffentliche Parks sind so konstruiert, dass Frauen leichter Opfer von Gewalt werden können.

Auch die Arbeit, die Frauen im Haushalt und bei der Pflege von Angehörigen verrichten, ist oft unsichtbar. Dabei verwenden Frauen pro Tag im Durchschnitt 52,4 Prozent mehr Zeit für unbezahlte Sorgearbeit auf als Männer, wie das Familienministerium im vergangenen Jahr mitteilte.

Der Großteil der Menschheitsgeschichte ist eine einzige Datenlücke.

Caroline Criado-Perez,

Autorin

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Ein Grund für diese Ungleichheit ist, dass sie oft unbemerkt bleibt, weil geschlechtsspezifische Daten nicht erhoben werden, erklärt Criado-Perez. „Der Großteil der Menschheitsgeschichte ist eine einzige Datenlücke“, schreibt sie. Wer eine gerechtere Welt will, muss aber auch an diesem Punkt ansetzen. Das Problem wird sich in Zeiten, da immer mehr Entscheidungen auf Grundlage von Daten getroffen werden, eher verschärfen als verbessern. Wenn Algorithmen wegen schlechter Daten schlechte Entscheidungen treffen, setzt sich die Diskriminierung aus dem vergangenen Jahrhundert ins aktuelle fort. Doch Frauen und ihre Bedürfnisse dürfen in Zukunft nicht unsichtbar bleiben, wie Criado-Perez es nennt. Das hat die Corona-Krise gezeigt – und das sollten wir aus ihr lernen.

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