Deutschland hofft nach 50 Jahren auf Friedensnobelpreis: Wieso ein Forscher das unrealistisch findet
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Norwegen, Oslo: Die Vorsitzende des Nobelpreis-Komitees, Aase Lionaes, überreicht Bundeskanzler Willy Brandt Urkunde und Medaille des Friedens-Nobelpreises.
© Quelle: DB ntb/NTB/dpa
Oslo. In der riesigen Bibliothek des norwegischen Nobelinstituts in Oslo stehen rund 200.000 Bücher – die interessantesten Dokumente aber werden tief im Keller aufbewahrt. Hinter einer ebenso schweren wie schwer gesicherten Stahltür befinden sich die Nominierungen für den Friedensnobelpreis, die traditionell ein halbes Jahrhundert lang unter Verschluss gehalten werden. 50 Jahre ist es her, dass Ex-Bundeskanzler Willy Brandt als bislang letzter Deutscher den renommiertesten Friedenspreis der Erde bekommen hat – damit lässt sich nun erstmals einsehen, wer ihn nominierte und wer seine Kontrahenten waren.
Für den Direktor des Nobelinstituts, Olav Njølstad, ist der Gang in den Keller in diesem Jahr besonders spannend, denn Norwegen hat zu dem Sozialdemokraten Brandt (1913-1992) ein besonderes Verhältnis. „Für die Norweger ist Willy Brandts Name sehr mit dem Kampf gegen den Nationalsozialismus verbunden“, sagt Njølstad. Nach Adolf Hitlers Machtübernahme war Brandt, der eigentlich Herbert Ernst Karl Frahm hieß, 1933 nach Norwegen geflohen. Er lernte die Sprache, schloss viele Freundschaften und arbeitete unter dem Decknamen Willy Brandt gegen das Nazi-Regime. Als der Krieg nach Norwegen kam, floh er nach Schweden und arbeitete weiter als Journalist.
Nach dem Krieg kehrte Brandt nach Deutschland zurück, wurde Bürgermeister von Berlin, SPD-Vorsitzender und Außenminister. Von 1969 bis 1974 war er Kanzler. Den Friedensnobelpreis bekam er 1971 für seine Ostpolitik, die zur Entspannung im Kalten Krieg beitrug.
Auf der Nobelpreis-Liste aus dem Jahr 1971 stehen 39 Namen
In dicken Sammelmappen sind die Briefe aufbewahrt, die mit Kandidatenvorschlägen an das Nobelkomitee geschickt wurden. Sie zeigen nun: Brandt wurde damals weder von jemandem aus Deutschland noch aus Norwegen nominiert.
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Norwegen, Oslo: Einer der Briefe, mit denen der damalige Bundeskanzler Willy Brandt für den Friedensnobelpreis nominiert wurde.
© Quelle: Sigrid Harms/dpa
„Es gibt drei Nominierungsschreiben“, sagt Njølstad. „Eines ist von zwei Franzosen, einem Italiener und dem Präsidenten der Nationalversammlung in Senegal unterzeichnet.“ Ein zweiter Brief komme von einem US-Geschichtsprofessor, der dritte von Jens Otto Krag, Sozialdemokrat und viele Jahre dänischer Regierungschef. Alle hoben Brandts Beitrag zur Entspannung zwischen Ost und West hervor. Das Bild seines Kniefalls von Warschau ist bis heute legendär.
In einer alten Kladde steht mit Handschrift geschrieben, wer sonst noch im Jahr 1971 nominiert war. Insgesamt 39 Namen sind aufgelistet, darunter Jean Monnet, der zu den Gründervätern der Europäischen Gemeinschaft zählt, sowie der jüdische Humanist Elie Wiesel. Viele Kandidaten von 1971 haben später den Friedensnobelpreis bekommen.
Die 50-jährige Geheimhaltung rund um den Nominierungsprozess hält Njølstad für enorm wichtig. „Man trägt ja eine Verantwortung, wenn man Einzelpersonen besonders hervorhebt und sie in die Position rückt, die ihnen der Friedenspreis gibt“, sagt er. „Du musst dich ziemlich sicher fühlen, dass diese Person die Kraft hat, diesen Druck auszuhalten, die Aufmerksamkeit, die sie bekommt.“
Auch Angela Merkel kommt für einen Friedensnobelpreis infrage
Seit Willy Brandt hat kein Deutscher mehr den Friedensnobelpreis erhalten. Wird es deshalb langsam wieder Zeit – etwa mit einem Preis für Angela Merkel zum Ende ihrer 16-jährigen Kanzlerinnenschaft?
234 Persönlichkeiten und 95 Organisationen sind diesmal nominiert worden. Am Freitag (8. Oktober) soll die diesjährige Preisträgerin oder der Preisträger verkündet werden. Zu den Topfavoriten zählt die scheidende Kanzlerin nicht – aber wie es eben so ist mit den Nobelpreisen, kann niemand vorher mit Sicherheit sagen, wer die Auszeichnung am Ende erhält. 2020 ging er an das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen – auf dem Schirm hatte die UN-Organisation vorab kaum jemand gehabt.
Friedensnobelpreis: Forschungsinstitute vermuten Klimaschutz als Schlüsselthema
Während die Wettbüros angesichts der Pandemie wie im Vorjahr erneut die Weltgesundheitsorganisation WHO favorisieren, werden vielerorts auch die belarussische Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja, der russische Kremlkritiker Alexej Nawalny und die Reporter ohne Grenzen genannt. Beim Stockholmer Friedensforschungsinstitut Sipri hält man vor allem einen Preis für den Kampf gegen die Klimakrise für angebracht – solch einen gab es zuletzt 2007 für den Weltklimarat IPCC und den früheren US-Vizepräsidenten und Klimaaufklärer Al Gore.
„Ich denke, dieses Jahr könnte der Klimawandel an der Reihe sein“, schätzt Sipri-Direktor Dan Smith ein. Mit seinen schweren Waldbränden und Überschwemmungen sei das Jahr erneut außergewöhnlich gewesen, außerdem stehe mit der COP26 in Glasgow eine der besonders wichtigen Weltklimakonferenzen an. Das Thema habe somit höchste Aktualität, andere klare, starke Kandidaten scheine es zudem nicht zu geben. „Dieses Jahr ist ein schlechtes Jahr für den Frieden gewesen“, sagt Smith mit Blick auf die Lage etwa in Afghanistan und Äthiopien. Es habe keinen neuen Durchbruch für Friedensverträge oder die Beendigung bewaffneter Konflikte gegeben.
Wird es also einen Nobelpreis für Klimaaktivistin Greta Thunberg geben? Smith warnt, die Auswahl einer einzelnen Person könne problematisch sein. „Greta Thunberg ist eine herausragende junge Aktivistin. Aber es gibt natürlich noch viele andere junge Aktivisten, und sie selbst weist darauf hin, dass man auch an die anderen denken sollte“, sagt der Friedensforscher.
Er hat deshalb eine Idee: „Es wäre wirklich großartig, eine Liste mit 10 bis 20 genannten jungen Klimaaktivisten aus aller Welt zu sehen.“ Dabei würde man unterstreichen, dass es sich um eine soziale Bewegung handelt. Besonders wichtig wäre dabei, Aktivistinnen und Aktivisten aus Ländern zu berücksichtigen, in denen Umweltschützerinnen und -schützer schikaniert würden. Solch eine Auswahl wäre eine sehr wünschenswerte, findet Smith.
RND/dpa