Eine ganz neue Praxis: Diagnose per Telemedizin
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Sich krank zum Hausarzt zu schleppen und Stunden im Wartezimmer auszuharren – in Zeiten von Videotelefonie, Chatprogrammen und E-Mails wirkt das unnötig mühsam. Wie wichtig ist der Gang zum Arzt wirklich noch?
© Quelle: Peart/Shutterstock
Hannover. Ein bisschen seltsam fühlt es sich schon an. Noch bevor man auch nur mit einem Menschen gesprochen hat, will das Onlineformular wissen: „Unter welchen Beschwerden leidest du?“ Zur Auswahl stehen Blähbauch, Durchfall, Bauchkrämpfe, Sodbrennen und noch ein paar weitere Symptome, über die man eigentlich mit niemandem gerne spricht.
Denn wenn der Bauch Probleme bereitet, will Cara Care helfen. Wer sich durchringt, die zutreffenden Häkchen setzt und noch ein paar weitere Fragen beantwortet, kann einen Termin für ein Informationsgespräch auswählen. Der erste Schritt ist getan – ohne, dass man dafür das Haus verlassen musste: Cara Care ist eine „digitale Praxis“.
Um Küchenrolle zu kaufen, muss man heutzutage keinen Supermarkt mehr betreten. Eine Reise auf die Fidschi-Inseln lässt sich vom Sofa aus buchen. Aber wenn der Kopf dröhnt, die Nase läuft und der Husten die Knochen klappern lässt, dann schleppen wir uns zum Arzt, warten mit anderen Schniefnasen im Wartezimmer und trotten nach dem Gespräch zur Apotheke und anschließend zurück ins Bett.
Wie wichtig ist der Gang zum Arzt wirklich noch?
In Zeiten von Videotelefonie, Chatprogrammen und E-Mails wirkt das unnötig mühsam. Wie wichtig ist der Gang zum Arzt wirklich noch?
Für die deutschen Ärzte hieß die Antwort lange: quasi unverzichtbar. Fernbehandlung, das erlaubte ihre Berufsverordnung bis zum vergangenen Jahr nur unter besonderen Umständen. Eine heilende Wunde inspizieren, Werte von Diabetikern kontrollieren, das ging zwar schon. Aber nur, wenn Arzt und Patient sich vorher mindestens einmal persönlich getroffen hatten.
Cara Care ist ein Produkt dieser Zeit. Zwar kombiniert die „digitale Praxis“ eine App mit Essenstagebuch und Onlinesprechstunden, bietet also Telemedizin an, aber mit einem Arzt spricht man dabei zumindest derzeit noch nicht. Stattdessen meldet sich eine Ernährungsberaterin per Videochat. Sie sitzt irgendwo – es könnte in Wuppertal oder am Titisee sein – in einer hellen Wohnung und will wissen, wo der Magen drückt. Über den eigenen Darm, Stress und Verdauungsprobleme zu sprechen, das ist nicht leicht. Aber dass man dabei nicht im gleichen Raum sitzt, macht es auch nicht schwieriger – sondern eher praktischer.
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Hausarzt Danny Nummert-Schulze spricht während einer Videosprechstunde in seiner Praxis mit einer Patientin.
© Quelle: Monika Skolimowska/dpa-Zentralbild/dpa
Andere Länder sind beim Thema Telemedizin schon weiter. In der Schweiz beispielsweise gehört sie zur Grundversorgung, in skandinavischen Ländern oder Großbritannien ist sie Alltag. Dabei stehen die Deutschen der Telemedizin teilweise durchaus offen gegenüber: Unter den 18- bis 34-Jährigen lehnen nur 28 Prozent eine fernmedizinische Behandlung grundsätzlich ab, zeigt eine aktuelle Befragung von YouGov im Auftrag der Nürnberger Versicherung.
Ältere Menschen sind zurückhaltender: Bei den Befragten ab 55 Jahre lehnten sie 42 Prozent ab. Doch auch in Deutschland tut sich etwas. In das Gesundheitssystem ist Bewegung gekommen – zumindest ein bisschen.
Die Praxis von Anita Wieser liegt nur wenige Schritte von der Nikolaikirche entfernt, beste Leipziger Lage. Aber nur ein Teil ihrer Patienten bekommt den Wartebereich mit den bequemen lila Sofas oder das Sprechzimmer jemals zu Gesicht. Denn Wieser arbeitet mit der Münchner TeleClinic zusammen.
Im Einzelfall muss der Arzt selbst entscheiden
Neben den Patienten, die in ihre Praxis kommen, behandelt sie auch Menschen, die sie nur am Bildschirm trifft. Montags aber scheinen die Menschen noch selbst zum Arzt zu gehen. Während immer wieder Patienten zu ihren ausgemachten Terminen in die Privatpraxis von Wieser kommen, bleibt es auf ihrem Computerbildschirm ruhig. Am Wochenende ist das anders.
Im vergangenen Mai hat der Ärztetag das sogenannte Fernbehandlungsverbot abgeschafft. Die Bundesärztekammer empfiehlt nun den Landesärztekammern Fernbehandlung „im Einzelfall“ zu erlauben. Aber auch die Bundesärztekammer sagt: Bei schweren Erkrankungen lässt sich der persönliche Kontakt nicht ersetzen. Das heißt: Im Einzelfall muss der Arzt selbst entscheiden, wo die Grenzen liegen, ob eine Fernbehandlung möglich ist.
Auch wenn der Beschluss mit einer großen Mehrheit verabschiedet wurde: Nicht alle Ärzte fanden ihn gut. Man löse damit kein „Versorgungs-“ sondern eher ein „Komfortproblem“ der Patienten, zitiert das Ärzteblatt einen der Kritiker. Die Kommunikation zwischen Arzt und Patienten sei größtenteils nonverbal, Telemedizin nicht gleichwertig, lautete ein anderer Vorwurf. Die Angst: Ein Arzt, der nur im Callcenter arbeitet, kenne den „Goldstandard“ gar nicht mehr, weil er keine Patienten mehr direkt behandelt. Und der Goldstandard, da stimmt auch die Bundesärztekammer zu, das sei weiter der persönliche Arzt-Patienten-Kontakt.
„Es geht bei der Telemedizin nicht darum, den Arzt zu ersetzen“
Auch in Brandenburg, wo zwar in einigen Regionen Ärztemangel herrscht, die Änderungen aber trotzdem nicht umgesetzt wurden, teilt die Landesärztekammer mit: Behandlungen ausschließlich aus der Ferne seien ein unkalkulierbares Risiko für Patient und Arzt. Die bisherige Regelung verhindere Fehlbeurteilungen und schütze Arzt und Patient gleichermaßen, heißt es.
Andere Ärzte sehen zwar den Nutzen der Telemedizin, finden aber Aufwand und Ertrag stünden derzeit noch in keinem Verhältnis. Manche Patienten dagegen sorgen sich um ihre Daten: Gesundheitsdaten, das sind sensible Daten. Sind sie wirklich sicher vor Hackern? Könnten Sie bei Krankenkassen oder sogar dem Arbeitgeber landen?
„Es geht bei der Telemedizin nicht darum, den Arzt zu ersetzen“, sagt Katharina Jünger, die zu den Gründern der TeleClinic gehört. „Sondern mehr Menschen sollen einen schnelleren und einfacheren Zugang zu Ärzten bekommen.“ Wer den Service der TeleClinic nutzen will, landet erst einmal in der Zentrale in München. „Dort sprechen die Patienten dann mit unseren ärztlichen Assistenten“, erklärt Jünger.
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Dieses Symbolfoto zeigt, wie eine Ärztin in einer Praxis mit einem Patienten über eine Webcam kommuniziert.
© Quelle: imagebroker
Sie stellen viele Fragen, die es den Ärzten später leichter machen sollen, den Patienten schnell zu helfen. Dann bekommen die Patienten einen Arzt vermittelt. Die Patientendaten werden verschlüsselt in Deutschland gespeichert – stimmen die Patienten zu, erhalten die Krankenkassen Zugriff auf anonymisierte Daten.
Ploppt eine neue Patientenanfrage im System auf, kann Wieser entscheiden, ob sie Zeit hat, sie anzunehmen. Der Patient bekommt dann eine Uhrzeit für das Gespräch genannt. „Je nachdem, wie aktiv die Kollegen sind, muss man manchmal ganz schön schnell sein“, sagt sie. Bevor sie mit den Patienten spricht, kann Wieser sich schon ein Bild machen, worum es gehen soll. Sie erfährt zum Beispiel, bei welchen Ärzten der Patient schon war oder welche Medikamente er nimmt. Manchmal bekommt sie auch schon vorab Bilder zu sehen – etwa von einem Hautausschlag.
Freitagabend, alle Ärzte haben zu, doch das Kind hustet und hustet. Ein Fall für den Notdienst? Oder ein Problem, das bis Montag warten kann? Eine Entscheidung, bei der Wieser helfen kann – auch ohne vor Ort zu sein. „Ich sehe das Kind, ich höre es husten und spreche mit den Eltern“, sagt sie. Sie will dann etwa wissen, wie schwer die Hustenanfälle sind, wie lang das schon so geht, ob das Kind einigermaßen fit ist oder nur im Bett liegt – alles Fragen, die sie auch in ihrer Praxis stellen würde.
Eltern, Digitalaffine und saisonale Erkrankungen
Klar, würde das Kind vor ihr sitzen, hätte sie es auch noch einmal zusätzlich abgehört. Aber das sei eben nur ein Teil der Arbeit, sagt Wieser. Auch so kann sie Entwarnung geben: Wenn das Kind kein Fieber bekommt, reicht es, am Montag zum Arzt gehen.
Ohne Wieser wären die Eltern dagegen vielleicht in eine – überfüllte – Notaufnahme gefahren. „Ich arbeite auch im Notdienst, und dort gibt es viele Fälle, bei denen ich denke: Hätte man diese Patienten am Telefon ordentlich beraten, wären sie nicht hier – und die Notaufnahme entlastet“, sagt Wieser.
Tatsächlich wird das Angebot der TeleClinic viel von Eltern mit kleinen Kindern genutzt. „Außerdem sehen wir auch viele Männer ab 45 Jahre, die sich lange nicht um ihre Gesundheit gekümmert haben und jetzt Bluthochdruck, Rückenschmerzen oder beispielsweise Übergewicht haben“, sagt Jünger. Diese Menschen seien dann oft sehr digitalaffin, sodass sie das Angebot eher testen. Die dritte große Gruppe bilden die vielen saisonalen Anfragen: Grippe, Heuschnupfen im Frühling, verstauchte Füße im Winter.
Oft haben Patienten eher logistische als gesundheitliche Probleme
Viele der Patienten, die Wieser per Videochat behandelt, haben auch nicht zwangsläufig ein akutes gesundheitliches Problem, sondern eher ein logistisches. Da war zum Beispiel die junge Frau mit der Nussallergie: Nach einem Abendessen hatte sie ihr Notfallmedikament einnehmen müssen, erzählt Wieser. Jetzt brauchte sie schnell ein neues. Wieser kann ihr ein Folgerezept ausstellen, die Patientin muss dafür nicht extra zum Arzt gehen, sondern direkt zur Apotheke.
Wenn der Arzt vor Ort schon geschlossen hat, der Termin beim Spezialisten so schwer zu bekommen, die Arbeit so stressig ist, dass keine Zeit bleibt, zum Arzt zu gehen, kann Telemedizin helfen. „Manchmal sagen die Anrufer tatsächlich: Moment, ich gehe mal kurz aus der Konferenz heraus“, erzählt Wieser. Vielleicht kann man das ein „Komfortproblem“ nennen. Aber ist es denn schlimm, wenn der Arztbesuch ein bisschen bequemer wird? Die Wartezimmer dafür ein bisschen leerer?
Überweisung per Mail
Das gilt auch für Überweisungsscheine: Ein älterer Mann leidet seit Jahren an einer Hüftarthrose, seit einiger Zeit nehmen die Schmerzen zu. Deshalb möchte er nun mit seinem Orthopäden besprechen, ob er eine neue Hüfte bekommt. Dazu braucht er aber neue Röntgenbilder. Der Mann könnte nun erst einmal zum Hausarzt gehen, der ihn dann zum Orthopäden schickt, der ihn dann wiederum für Röntgenbilder an den Radiologen überweist, mit denen er dann zurück zum Orthopäden geht.
Oder aber er ruft bei der TeleClinic an, wo ihm Wieser nach einem kurzen Gespräch eine Überweisung per Mail schicken kann, mit der er direkt zum Röntgen kann. „Das war in dem Fall kein Problem, weil die Erkrankung ja schon lange existiert hat und gut dokumentiert war“, sagt sie.
Aber sie muss natürlich immer abwägen: Wäre etwa eine Frau im gebärfähigen Alter gestürzt, hätte sie die Überweisung zum Radiologen nicht so einfach unterschrieben. „In einem solchen Fall versucht man, die Röntgenstrahlungsbelastung so gering wie möglich zu halten“, sagt Wieser. Heißt: Sie hätte wahrscheinlich empfohlen, dass sich die Patientin doch vorher noch einmal von einem Arzt untersuchen lässt.
Sinnvoll für erfahrene Ärzte
Wer Sprechstunden am PC anbietet, der brauche deshalb eine gewisse Erfahrung, findet Wieser. Jungen Ärzten, die gerade anfangen, würde sie den direkten Einstieg in die Telemedizin nicht empfehlen. Denn auch wenn die Anrufer vorher ein Gespräch mit einem ärztlichen Assistenten hatten: „Bei der Telemedizin müssen Sie einschätzen können, wie ernst die Lage ist. Oder ob zum Beispiel Eltern einfach nur sehr nervös sind.“
Für Wieser, die seit 20 Jahren Ärztin ist, ist die Zusammenarbeit mit der TeleClinic dagegen nicht nur sinnvoll, sondern auch praktisch. „Es lässt sich gut in meinen Arbeitsalltag integrieren.“ Sie kann sich die Termine frei auswählen, kann zum Beispiel entscheiden, wann sie zwischen ihren regulären Terminen den Tag über Zeit hat oder ob sie vielleicht am Wochenende zu Hause noch ein paar Videoanrufe annehmen will.
Doch neben ihrer eigenen Privatpraxis und den Diensten in der Notaufnahme macht die Telemedizin derzeit nur einen kleinen Teil ihrer Einkünfte aus. „Ich würde aber gerne noch mehr machen.“ Die Nachfrage werde wachsen, glaubt Jünger. „Wir sehen, dass es ein großes Interesse gibt.“ Auch Wieser glaubt: Die Patienten, die den Dienst einmal genutzt haben, werden wiederkommen. „Ich erlebe sie als sehr entspannt und zufrieden.“
„Wir können schon am Telefon sehr viel helfen“
Doch noch immer gibt es Hürden. Eine sehr große: Im Gegensatz zu Privatpatienten müssten gesetzlich Versicherte die Leistungen der TeleClinic in der Regel noch selbst bezahlen, sagt Jünger. Pro Gespräch kostet das 30 Euro. Einen Teil davon behält die TeleClinic, den Rest bekommt der Arzt. Die TeleClinic darf derzeit auch nur private E-Rezepte ausstellen, noch keine Kassen-E-Rezepte. Wenn es nach Gesundheitsminister Jens Spahn geht, soll sich das aber bis 2020 ändern.
„In etwa der Hälfte der Fälle können wir den Patienten heute schon abschließend helfen“, sagt Jünger. Das heißt: Die Patienten bekommen, was sie brauchen – ob das ein Rezept, eine Diagnose oder eine Zweitmeinung ist. In den anderen Fällen wird den Patienten geraten, gleich oder später noch einmal einen Arzt aufzusuchen. Die Patienten seien dann aber schon einmal beruhigt, weil sie zum Beispiel wissen, dass es nicht schlimm ist, wenn sie erst in vier Wochen einen Termin beim Dermatologen bekommen, sagt Jünger.
Wieser sieht das ähnlich: „Wir können schon am Telefon sehr viel helfen“, sagt sie. Für sie ist die Telemedizin auch eine sinnvolle Alternative zu Dr. Google. Wenn Menschen dort nach ihren Symptomen suchen, wird aus dem Schnupfen schnell ein tödlicher Krebs. „Telemedizin ist eben nicht das anonyme Internet, sondern im Gegenteil: Man spricht wieder miteinander.“
„Ein Onlineangebot erreicht mehr Jugendliche“
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Tina In-Albon ist Professorin für Klinische Psychologie und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters an der Uni Koblenz-Landau. Sie erforscht unter anderem nicht-suizidales selbstverletzendes Verhalten bei Kindern und Jugendlichen.
© Quelle: Universität Koblenz-Landau
Frau In-Albon, mit dem STAR-Projekt wollen mehrere Universitäten, darunter auch Ihre, Hilfen für sich selbstverletzende Jugendliche entwickeln und erforschen. Dazu entwickelt das Projekt unter anderem ein Onlinetherapieangebot. Wenn Jugendliche sich selbst verletzen, wollen sie sich dann töten?
Unter selbstverletzendem Verhalten versteht man das absichtliche Verletzen des eigenen Körpers, zum Beispiel durch Schneiden, Brennen, Kratzen oder Schlagen. Das ist aber nicht mit der Absicht verbunden, sich umzubringen. Allerdings kann es ein Risikofaktor dafür sein.
Verletzen nur Jugendliche sich selbst?
Tatsächlich sind davon mehrheitlich heranwachsende Jugendliche betroffen. Im Schnitt beginnt das Verhalten im Alter von zwölf bis 14 Jahren, kann aber auch bis ins Erwachsenenalter andauern.
Wenn sich ein Jugendlicher selbst Verletzungen zuführt, ist das dann eine eigenständige Erkrankung oder eher ein Symptom für eine psychische Krankheit?
Lange Zeit hat man selbstverletzendes Verhalten ausschließlich als Symptom der Borderline-Persönlichkeitsstörung angesehen. Doch es zeigt sich, dass auch Menschen mit anderen psychischen Störungen, wie etwa Angst- oder depressiven Störungen, sich selbst verletzen. Manchmal gibt es auch gar keine weiteren psychischen Auffälligkeiten. Um das selbstverletzende Verhalten von anderen psychischen Erkrankungen abzugrenzen, ist deshalb noch Forschung nötig. Wichtig ist auch, dass man zwischen Menschen unterscheidet, die sich einmal selbst verletzten, und solchen, die dies immer wieder tun. Denn erst wenn ein Mensch sich mehrfach selbst verletzt, spricht man von einer Störung.
Warum verletzen Menschen sich selbst?
Es gibt dafür keine einzelne, alleinstehende Ursache. Biologische, soziale und psychische Faktoren spielen eine Rolle. Ein Ziel des STAR-Projektes ist es, mehr darüber herauszufinden, was dazu führt, dass jemand aufhört oder weitermacht.
Ein Problem ist, dass sich Betroffene oft keine Hilfe holen. Warum ist das so?
Wir wissen, dass viele Jugendliche, die sich bereits mehrfach selbst verletzten, keine psychotherapeutische Behandlung in Anspruch nehmen. Das kann mehrere Ursachen haben, wie beispielsweise eine ausgeprägte Hemmschwelle, eine Psychotherapie aufzunehmen. Auch Ängste und Schamgefühle können dabei eine Rolle spielen oder die Tatsache, dass die Psychotherapie schwer zu erreichen ist. Zudem stellt das selbstverletzende Verhalten für viele Betroffene die zumindest derzeit einzige Möglichkeit dar, mit aversiven, also Widerwillen hervorrufenden Emotionen umzugehen. Dann ist die Selbstverletzung eine kurzfristig sehr wirksame Methode, sich Erleichterung zu verschaffen. Aus diesem Grund sind viele Betroffene unsicher, was passiert wenn, man ihnen diese Option „wegnimmt“. Ziel einer Therapie ist es, unter anderem alternative Problemlösungsstrategien zu lernen.
Warum könnte eine Onlinetherapie dabei helfen?
Weil die Mehrheit der betroffenen Jugendlichen eine technologiebasierte Intervention bevorzugt – das konnten Studien zeigen. Denn die Hemmschwelle, um sich professionelle Hilfe zu suchen, kann dabei niedriger sein. Außerdem erreicht ein Onlineangebot mehr Jugendliche und junge Erwachsene.
Wie funktioniert die Onlinetherapie, die das STAR-Projekt nun testen will?
Die Teilnehmer werden dabei zufällig zwei Gruppen zugeteilt: Eine Gruppe erhält online Zugriff auf seriöse und umfassende Informationsmaterialien zu selbstverletzendem Verhalten, die andere Gruppe nimmt zusätzlich an einem Onlineprogramm teil. Dazu gehören unter anderem Informations- und Übungsmaterialien, Beratung per Telefon oder Chat und der Austausch mit anderen Betroffenen. Wir wollen dabei untersuchen, inwiefern das Programm dazu in der Lage ist, sich selbstverletzende Jugendliche und junge Erwachsene zu unterstützen, das selbstverletzende Verhalten zu reduzieren. Und zudem wie sich das Programm auf den Gesundheitsverlauf auswirkt. Die Teilnahme am Programm ist kostenlos.
Besteht bei einer anonymen Onlinetherapie nicht das Problem, dass man wichtige Warnzeichen übersieht, die in einer persönlichen Therapie auffallen würden?
Für die Teilnehmer besteht die Möglichkeit, Beratung per Telefon oder Chat in Anspruch zu nehmen. Für Notfallsituationen erhalten sie Ansprechpersonen beziehungsweise Telefonnummern.
Aber sollte man betroffene Jugendliche nicht eher dazu animieren, zur Psychotherapie zu gehen?
Es ist sicherlich ganz allgemein wichtig, Personen mit psychischen Schwierigkeiten zu ermutigen, Psychotherapie in Anspruch zu nehmen. Wenn aber die Hemmschwellen zu groß sind, ist es doch umso besser, wenn sie online Unterstützung bekommen. Vielleicht kann man sie auch dadurch für eine anschließende Therapie motivieren.
Von Anna Schughart