Wirtschaftsnobelpreis: Warum hohe Mindestlöhne mehr Beschäftigung bringen können
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Die Illustration zeigt David Card, Joshua Angrist und Guido Imbens (von links). Der Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften geht in diesem Jahr an die drei Forscher.
© Quelle: Niklas Elmehed/Nobel Prize Outre
Frankfurt. Selten waren Nobelpreise für Wirtschaft so nah an der Lebenswirklichkeit wie in diesem Jahr. Die Auszeichnung geht an drei Wissenschaftler, die sich mit sogenannten natürlichen Experimenten befassen. Der Preis wird in zwei Hälften geteilt. Die eine Hälfte erhält David Edward Card. Der gebürtige Kanadier forscht an der Berkeley-Universität in Kalifornien.
Die andere Hälfte teilen sich Joshua David Angrist vom renommierten Massachusetts Institute of Technology (MIT) und Guido Wilhelmus Imbens, gebürtiger Niederländer, der an der Stanford-Universität, ebenfalls Kalifornien, als Professor lehrt und forscht. Laut Nobel-Akademie haben sich alle drei im weiteren Sinn um die Erforschung des Bereichs Arbeit verdient gemacht.
„Der Kapitalismus gewinnt“, frotzelte ein User im Chat des Youtube-Kanals, der die Bekanntgabe der Preisträger am Montag live im Internet übertrug. „Wieder Profs von den berühmten US-Unis“, meinte ein anderer. Beide liegen mit ihren Hinweisen richtig. Auffällig oft kommen die Ausgezeichneten aus den USA. Immer wieder ist von Kritikern zu hören, dass die US-Eliteunis mit geschicktem Lobbyismus ihre Profs nach vorne bringen.
Card ist aber immerhin ein Wirtschaftswissenschaftler, der schon seit 2013 immer wieder als einer der Favoriten für den Nobelpreis gehandelt wird, weil er zu den weltweit am häufigsten zitierten Ökonomen gehört. In seinen Veröffentlichungen geht es auch um die Erkundung der Schattenseiten des Kapitalismus. Sein Spezialgebiet ist die Armuts- und Arbeitsmarktforschung.
Er hat sich mit Rassentrennung und Immigration und deren Wirkungen auf Beschäftigung befasst. Er hat Gesundheitssysteme untersucht, und er ist der Frage nachgegangen, welchen Einfluss der Bildungsgrad oder die Höhe der Bezahlung auf die Gesundheit der Menschen hat.
Card analysiert Effekte von Mindestlöhnen auf ökonomische Entwicklung
Mit natürlichen Experimenten ist in diesem Zusammenhang gemeint, dass Card seine Erkenntnisse nicht durch Tests mit Probanden gewinnt, sondern dass er das reale soziale und ökonomische Geschehen untersucht. Card hat große Mengen von Aufsätzen und viele Bücher geschrieben. Das vielleicht bekannteste – gemeinsam verfasst mit Alan Krueger – heißt: „Myth and Measurement: The New Economics of the Minimum Wage“.
Es analysiert die Effekte von Mindestlöhnen auf die ökonomische Entwicklung. Card und Krueger haben sich dabei die Beschäftigung in Fast-Food-Restaurants in New Jersey und Westpennsylvania genau angeschaut. Während des Untersuchungszeitraums wurden in New Jersey die Mindestlöhne deutlich erhöht. Das erstaunliche Ergebnis: Dies hat aber zu keinem Jobabbau geführt. Arbeitgeber argumentieren hingegen auch hierzulande unverdrossen, dass höhere Mindestlöhne Arbeitsplätze vernichten.
Die Analysen haben aber ergeben, dass die Höhe der Bezahlung zwar enorm wichtig, aber mit anderen Faktoren verknüpft ist: Niedrige Mindestlöhne haben den Nachteil, dass die Fluktuation in den Unternehmen sehr groß ist, weil die Beschäftigten ständig auf der Suche nach besser bezahlten Jobs sind. Ebenso fällt es dem Arbeitgeber schwer, neue Leute zu finden. Stellen bleiben für längere Zeit unbesetzt.
Ist der Mindestlohn hingegen in einer angemessenen Höhe, sind die Angestellten loyaler, es gibt weniger offene Stellen. So kann die Zahl der Beschäftigten durch einen höheren Mindestlohn sogar steigen. Solche Erkenntnisse können auch bei den derzeitigen Sondierungen für eine Ampelkoalition hilfreich sein. Denn die SPD fordert einen deutlichen Aufschlag beim Mindestlohn auf 12 Euro, und sie muss die FDP davon überzeugen.
Bei den natürlichen Experimenten gibt es allerdings ein großes Problem: Im wirklichen Leben fallen ungeheuer große Mengen von Informationen an. Es ist für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler häufig enorm schwer, Ursache und Wirkung bei sozioökonomischen Prozessen zu erkennen. Wer das entwirren will, soll sich Prof. Josh Angrist anschließen, heißt es in der aktuellen Ankündigung des MIT für ein Onlineseminar des Forschers, der mit einem Viertelnobelpreis geehrt wird.
Zahlen zum Leben erwecken
Er und sein Stanford-Kollege Imbens – sie sind miteinander befreundet – haben Grundlegendes in der spröden, aber immer wichtiger werdenden Disziplin der Ökonometrie erforscht. Es geht um Antworten auf Fragen wie: Ist ein neues Medikament wirksam? Wie beeinflusst eine Berufsausbildung die Chancen, eine Stelle zu finden? Wie wirkt sich eine neue Regulierung auf die Wirtschaftstätigkeit aus?
Das hat viel mit Mathematik und Statistik zu tun. Imbens hat darüber Standardwerke verfasst. Und in Angrists Onlineseminar wird versprochen: „Wir überspringen theoretische Langeweile und verwenden empirische Fragen, um die Zahlen zum Leben zu erwecken.“ Zum Beispiel: Verkürzt Alkoholkonsum in jungen Jahren die Lebenserwartung? Angrist befasst sich in diesem Herbst in einem Seminar am MIT aber auch mit der besagten Arbeitsökonomie und dem Thema, inwiefern Migration Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt verändert.
Der Wirtschaftsnobelpreis wird auch als der Bastard unter den Nobelpreisen bezeichnet. Er wurde erst 1969 eingeführt. Er geht nicht auf Alfred Nobels Testament zurück, dem die Zunft der Ökonomen suspekt gewesen sein soll. Die schwedische Reichsbank hat die Auszeichnung „im Gedenken an Alfred Nobel“ gestiftet. Die Preisträger werden dennoch wie in den Sparten Physik oder Chemie von der Schwedischen Akademie der Wissenschaften nominiert.