Wirtschaftshistoriker im Interview: „Es wird wieder aufwärtsgehen“
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/WKWCRRVFBBB7RB4D6NTGLSHUS4.jpg)
Börsen weltweit erleben eine beispiellose Talfahrt.
© Quelle: imago stock&people
Herr Hesse, die Welt steht vor einer schweren Rezession, die WTO befürchtet, dass der globale Handel in diesem Jahr um bis zu einem Drittel abstürzen könnte. Wie schlimm trifft uns diese Krise?
Das ist schwer vorherzusagen, und meine Expertise als Wirtschaftshistoriker hilft mir bei dieser Frage wenig. Es hängt davon ab, wie lange der Lockdown anhält. Einen Absturz des Welthandels um ein Drittel halte ich jedoch für eine sehr pessimistische Prognose. Lichtblicke gibt es auch in dieser Krise: Wir kennen ihre Ursache. Und wenn die behoben ist, geht auch die Krise vorbei. Der Handel bricht zwar ein, aber er steigt danach auch wieder.
Ganze Volkswirtschaften stehen still, sind quasi eingefroren. Hat es so etwas in der Geschichte schon einmal gegeben?
Nein. Selbst in den Weltkriegen war es immer so, dass einige Teile der Volkswirtschaft auf Hochtouren liefen – etwa die Rüstungsindustrie. Für einen kompletten Shutdown haben wir historisch keine Vorbilder. Was wir aber nicht vergessen dürfen: Es gibt auch Teile der Wirtschaft, die gerade gut laufen. Um ein Beispiel zu nennen: Wenn Sie jetzt versuchen, eine Webcam über den postalischen Weg zu beschaffen, dann werden Sie feststellen, dass die gerade sehr stark nachgefragt werden.
Der französische Präsident sagt, sein Land befinde sich im Kampf gegen das Virus in einem “Krieg” – ein passender Vergleich?
Ja und nein. Ja – da einige Maßnahmen, die die Politik gerade treffen muss, an eine Kriegssituation erinnern, wo persönliche Freiheiten eingeschränkt werden. Das erinnert an Notstand oder Ausnahmesituationen. Ansonsten halte ich von dieser martialischen Sprache nicht viel. In Kriegen schießen Menschen auf Menschen. Das ist jetzt zum Glück nicht der Fall, im Gegenteil: Ich erlebe eine große Solidarität unter den Menschen.
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/GRMSPTXIPZCXBCI76QF72UWWLU.jpg)
Prof. Dr. Jan-Otmar Hesse ist Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Bayreuth. Er ist Vorsitzender des Wirtschaftshistorischen Ausschusses des Vereins für Socialpolitik.
Wie verändern Krisen eine Volkswirtschaft?
Krisen schaffen nachhaltige Strukturen, die nicht zurückgenommen werden, wenn die Krise vorbei ist.
Jan-Otmar Hesse, Wirtschaftshistoriker
Krisen sind Phasen des beschleunigten Wandels. In Krisen entsteht viel Neues, Altes wird zerstört. Krisen beschleunigen den Strukturwandel – Prozesse also, die vorher bereits angestoßen worden waren. Nach dem Ersten Weltkrieg hat der Staat eine ganz neue Rolle übernommen. Preissteuerung, sozialpolitische Maßnahmen oder die Bereitstellung öffentlicher Versorgungsinfrastruktur gab es vorher nicht in dem Maße – auch wenn die Tendenzen schon angelegt waren. Die Weltwirtschaftskrise der 30er-Jahre des letzten Jahrhunderts hat ebenfalls einiges verändert: Damals wurde das Finanzsystem neu aufgestellt, bestimmte Dinge wurden verboten oder anders reguliert. Ähnlich war es nach der Finanzkrise 2007/2008. Krisen schaffen also nachhaltige Strukturen, die nicht zurückgenommen werden, wenn die Krise vorbei ist.
Die Weltwirtschaftskrise von 1929 hat zu schlimmen Verwerfungen geführt. Welche Fehler wurden damals bei der Krisenbekämpfung gemacht?
Die damalige Weltwirtschaftskrise war ein größerer Einbruch als heute. Die deutsche Volkswirtschaft ist um 20 Prozent geschrumpft, die amerikanische sogar um 30 Prozent. Und: Es gab damals keine soziale Absicherung. Die Arbeitslosigkeit ist explodiert. Die Menschen waren also komplett ohne Versorgung, es sind auch Leute verhungert. Das ist eine fundamental andere Situation. Damals wurde zu sehr an die Großindustrie, an die Finanzmärkte gedacht – und nicht an die Beschäftigten. Hunger, eine hohe Arbeitslosigkeit und massive Ungleichheit vermischten sich auf fatale Weise. Ich bin sehr zuversichtlich, dass wir das in der aktuellen Krise nicht erleben werden. In der letzten Finanzkrise haben wir gelernt, dass eine sozialverträgliche Krisenbewältigung möglich ist.
Die Geschichte zeigt: Nach Krisen geht es auch immer wieder bergauf. Wird das auch diesmal so sein?
Ja, absolut. Davon bin ich fest überzeugt. Es wird ein schrittweiser Prozess sein und für einige auch schmerzhaft. Ich erwarte aber eine relativ schnelle Erholung. Vermutlich werden viele Konsumwünsche nachholend realisiert. Wenn die Menschen nicht in den Sommerurlaub fahren dürfen, kaufen sich viele vielleicht ein neues Auto. Das stützt die Konjunktur.
Die Staaten weltweit pumpen Milliarden in ihre strauchelnden Volkswirtschaften. Müssen wir uns schon bald mit einem neuen Problem auseinandersetzen – Inflation?
Die meisten Ökonomen würden sich freuen, wenn es überhaupt wieder etwas Inflation gäbe. Aber im Ernst: Dass Geld in die Märkte gepumpt wird, ist nichts Neues. Ob aber die Inflation in größerem Stil zurückkehrt, da bin ich mir unsicher. Sie war vor der Krise nicht da. Ob das nach Corona anders ist, bleibt abzuwarten. Preissteigerungen hatten wir bislang nur auf den Märkten für Vermögenswerte – etwa bei Immobilien – gesehen, nicht so sehr auf den Gütermärkten.
Die deutsche Politik setzt auf Rezepte, die sich in der letzten Finanzkrise bewährt haben – etwa das Kurzarbeitergeld. Der Staatshaushalt ist saniert. Ist Deutschland also gut gerüstet für diese Krise?
Ein Zinssatz von 10 oder 15 Prozent würde allerdings auch den deutschen Haushalt in Schieflage bringen.
Jan-Otmar Hesse, Wirtschaftshistoriker
Deutschland ist so gut gerüstet, wie es eben kann. Der Staatshaushalt allerdings ist nicht saniert, da muss ich widersprechen. Die Verschuldung ist nach wie vor hoch – was bislang kein Problem darstellte, da die Zinsen niedrig sind. Ein Zinssatz von 10 oder 15 Prozent würde allerdings auch den deutschen Haushalt in Schieflage bringen. Im Vergleich zu anderen Ländern ist die Lage aber entspannt. Und: Wir haben Instrumente wie das Kurzarbeitergeld, die Menschen können weiter konsumieren – und Arbeitsplätze bleiben erhalten. Davon profitiert auch der Staat.
Es droht eine Rezession, die Bürgerrechte sind massiv beschnitten – und die große Koalition ist so beliebt wie lange nicht mehr. Können Sie sich das erklären?
(lacht): Ich finde auch, dass die Regierung das ganz gut macht. Die Koalition ist zu Recht beliebt. Die Politiker sind besorgt, das merkt man in jeder Talkshow. Sie stellen sich in den Dienst der Sache. In Krisen wächst oft das Vertrauen zu den Regierenden. Selbst Donald Trump hat in den USA fantastische Zustimmungswerte. Die Frage ist, was passiert, wenn die Krise überwunden ist – und die Folgen des Handelns bewusst werden. Wenn sich also die Frage stellt, wer dafür bezahlen muss und wie man mit Ungerechtigkeiten umgeht, die die Krisenbewältigung auf jeden Fall erzeugt, dann zeigt sich, wie beliebt die große Koalition wirklich ist.
Schon bald wird vermutlich die Debatte darüber beginnen, wer die Kosten der Krise zu tragen hat. SPD-Chefin Saskia Esken hat kürzlich eine Vermögensabgabe zur Bewältigung der Kosten der Krise ins Spiel gebracht, nach Kriegen gab es ähnliche Abgaben. Ist eine solche Vermögensabgabe eine sinnvolle Idee – oder bloß ideologisch getrieben?
Diese Diskussion ist ideologisch getrieben. Unsere Erfahrungen mit Vermögensabgaben sind schlecht. Die Kosten der Erhebung stehen in keinem Verhältnis zum Ertrag. Bis in die 1990er-Jahre gab es in Deutschland eine Vermögenssteuer. Aber: In keiner Phase der deutschen Geschichte wurden auf diesem Weg mehr als 4 Prozent der Staatseinnahmen generiert. Egal, wie Sie es drehen: Eine Vermögensabgabe wird unsere finanziellen Probleme nicht lösen. Worüber man aber nachdenken sollte, ist, Krisenprofiteure heranzuziehen. Die gibt es auch im Moment. Man könnte also überlegen, ob die Profiteure – etwa Amazon – von ihren Übergewinnen etwas an die Gesellschaft zurückzahlen.
In welcher Form könnte das sein?
Zum Beispiel über eine Gewinnbesteuerung, die sich nur auf Gewinne in der Krisenzeit bezieht. Im Ersten und im Zweiten Weltkrieg gab es die „Kriegsgewinnsteuer“. Die Unternehmen sind dann natürlich findig darin, die Gewinne kleinzurechnen. Ich bin aber überrascht, dass immer nur über die Wirtschaftszweige diskutiert wird, die leiden – und faktisch nichts darüber gesagt wird, dass es auch Profiteure gibt, die große Gewinne erzielen.
Als Wirtschaftshistoriker überblicken Sie lange Zeiträume. Was kann uns aktuell Mut machen?
Die Bekämpfung des Virus zerstört sie nicht substanziell – wir können also zu dieser gut funktionierenden Wirtschaft zurückkehren.
Jan-Otmar Hesse, Wirtschaftshistoriker
In dieser Krise ist klar, was sie ausgelöst hat. Und egal, ob sie nun zwei oder fünf Monate dauert: Das Problem ist irgendwann behoben. Dass es wieder aufwärtsgeht, ist klar. Das war in der Weltwirtschaftskrise im letzten Jahrhundert nicht so. Das Finanzsystem ist kollabiert, politische Konflikte haben sich entzündet. Für die Bürger ist es viel deprimierender, wenn sie überhaupt nicht wissen, was die Zukunft bringt und ob sich die Wirtschaft erholen kann. Die Corona-Krise trifft hingegen auf eine gut funktionierende Wirtschaft. Die Bekämpfung des Virus zerstört sie nicht substanziell – wir können also zu dieser gut funktionierenden Wirtschaft zurückkehren. Einige Unternehmen werden vielleicht nicht mehr da sein, das ist ohne Frage schmerzhaft. Aber die Substanz und die Leistungsfähigkeit der Volkswirtschaft bleiben erhalten.
RND