Keine Krise mehr? VW versucht den Neustart in den USA
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Ein Auto in der Kühlbox: VW versucht in den USA viel, um den Neustart zu schaffen.
© Quelle: Copyright Volkswagen US Media Site
Chattanooga. Über den waldigen Hügeln von Tennessee zieht bei schwülen 27 Grad ein Sommergewitter heran. Doch drinnen in der neuen weißen Fabrikhalle am Stadtrand von Chattanooga wird ein Auto schockgefroren. Arktische 70 Grad Celsius unter Null zeigt die Anzeige an, als zwei Ingenieure die schweren Stahltüren der Kältekammer öffnen. Weiße Eiskristalle bedecken sofort das Fahrzeug, während mächtige Nebelschwaden ins Publikum ziehen. Die Elektrik des Wagens aber funktioniert einwandfrei.
Begeistert hat Scott Keogh das Spektakel verfolgt. Die fernsehtaugliche Simulation zeigt für den amerikanischen Volkswagen-Chef nicht nur, dass der von großen Hoffnungen begleitete Elektro-SUV ID.4 winterfest ist. Sie soll wohl auch im übertragenen Sinn die Widerstandsfähigkeit der Marke demonstrieren. „Volkswagen ist zu 100 Prozent wieder zurück!“, hat der Manager zuvor enthusiastisch ausgerufen und mit einer großen Schere für die Fotografen gleich dreimal das Band zur Eröffnung des neuen Batterietechnikzentrums durchschnitten, dessen Technologie den Autobauer in die Zukunft bringen soll.
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Die Vergangenheit gleicht eher einer Geisterfahrt. Mit chronischen Verlusten und schlagzeilenträchtigen Affären war die US-Tochter traditionell das Sorgenkind des VW-Konzerns. Das 2011 eröffnete Werk in Chattanooga produzierte bis vor Kurzem das Modell Passat, das im Land der Geländewagen niemand kaufen will. Als dann viel zu spät ein SUV auf den Markt gebracht wurde, hatte der Skandal um manipulierte Dieselabgaswerte bereits den Ruf ruiniert. So kommt der zweitgrößte Karossenbauer der Welt mit der Marke VW im Autoland USA auf einen mickrigen Marktanteil von nicht einmal 3 Prozent.
Die Abhängigkeit von China als großes Problem
Ausgerechnet Probleme in anderen Teilen der Welt könnten das nun ändern. Angesichts der wachsenden Kritik von Investoren an der problematischen Abhängigkeit von China, wo VW rund 40 Prozent seiner Autos verkauft, hatte der Konzern schon im März eine fünfjährige Innovationsoffensive im Umfang von 7,1 Milliarden Dollar für Nordamerika und Mexiko angekündigt. Der Ukraine-Krieg, der wirtschaftlich vor allem Europa trifft, und die brisanten Enthüllungen über Zwangsarbeit in der chinesischen Uigurenregion machen die USA endgültig zum strategisch zentralen Wachstumsmarkt.
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Das Herz der neuen VW-Elektroautos: Ein Ingenieur präsentiert die in Chattanooga zusammengebaute Batterieplatte für den ID.4. Bislang werden die Komponenten zugekauft. Doch der Konzern denkt über eine eigene Batterieproduktion nach.
© Quelle: Karl Doemens
Den nötigen Schub für den Neuanfang zwischen Seattle und Miami soll der sukzessive Abschied vom Benzinmotor bringen. „Elektroautos bilden den am schnellsten wachsenden Markt in den USA“, sagt Unternehmenschef Keogh: „Das ist unsere Chance.“ Ab dem Spätsommer soll der bislang aus Zwickau importierte Kompakt-SUV ID.4 in Chattanooga vom Band laufen. Für die Folgejahre sind ein elektronischer Nachfolger des Kultbullis, ein akkubetriebener Pick-up und eine E‑Version des ebenso klobigen wie ertragsstarken SUV Atlas geplant. Bislang bezieht VW die benötigten Batteriezellen vom südkoreanischen Hersteller SK Battery in Georgia. In Chattanooga werden sie getestet, zusammengebaut und montiert. Im Herbst könnte die Entscheidung zum milliardenteuren Bau einer eigenen Batteriefabrik fallen.
Die Bürger von Chattanooga stehen voll hinter VW.
Tim Kelly,
Bürgermeister von Chattanooga
Schon jetzt expandiert das Unternehmen. 800 Millionen Dollar wurden in die Fertigungsstraße für den ID.4 investiert. Die Belegschaft in Chattanooga soll von 4000 auf 5000 Männer und Frauen aufgestockt werden. Entsprechend zufrieden äußert sich Tim Kelly, der Bürgermeister der 180.000-Einwohner-Stadt am entlegenen Südstaaten-Dreiländereck von Tennessee, Alabama und Georgia: „Die Bürger von Chattanooga stehen voll hinter VW“, versichert der parteilose Politiker, der fließend Deutsch spricht und einst als Autohändler arbeitete: „Eine Fabrikerweiterung wäre natürlich ein großer Deal für die Stadt.“
Gewerkschaften müssen in Chattanooga draußen bleiben
Auch Steve Cochran möchte stolz sein auf Volkswagen. Immerhin arbeitet er dort seit elf Jahren. Doch so ganz will das dem Mechaniker nicht gelingen. Zum Treffen in einem Coffeeshop kommt der bullige 46-Jährige mit einem knallroten T‑Shirt der Autogewerkschaft UAW, deren lokaler Vorsitzender er ist. Im Werk darf er das Outfit nicht tragen. Anders als ihre Kolleginnen und Kollegen bei den amerikanischen Konzernen General Motors oder Ford im Mittleren Westen sind die VW-Beschäftigten nicht gewerkschaftlich organisiert.
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Beklagt mangelnde Mitsprache und magere Sozialleistungen bei VW: Steve Cochran, der Chef der Autogewerkschaft UAW in Chattanooga.
© Quelle: Karl Doemens
„Die Arbeiter haben keine Stimme bei VW“, klagt Cochran. In Deutschland seien Betriebsräte und Mitbestimmung selbstverständlich: „Warum ist das in den USA anders?“ Bis die Inflation in diesem Jahr über 8 Prozent sprang, sei gar nicht der Lohn die größte Sorge der Beschäftigten gewesen, berichtet der zweifache Familienvater. Für Unzufriedenheit und relativ hohe Fluktuation der Mitarbeitenden sorgten vielmehr die Arbeitszeiten und die vergleichsweise bescheidenen Sozialleistungen. In Chattanooga wird rund um die Uhr in Schichten gearbeitet. „Sie können jederzeit sagen: Heute arbeitest du zwei Stunden länger oder morgen kommst Du gar nicht“, berichtet Cochran. Zwar beteilige sich VW an der Krankenversicherung, doch sei der Arbeitgeberanteil viel geringer als beim Konkurrenten General Motors.
Mehrfach hat die UAW versucht, auch in Chattanooga einen Fuß in die Tür zu bekommen. Im traditionell republikanischen Süden der USA ist das nicht einfach. Bei der letzten Abstimmung im Juni 2019 stimmten 776 Beschäftigte für eine gemeinsame Vertretung. Eine knappe Mehrheit von 833 Mitarbeitenden lehnte sie ab. Offiziell war die Werksleitung in dem Konflikt neutral. Tatsächlich, berichtet Cochran, gebe es keine Diskriminierung. Während der Kampagne aber wurden Betriebsversammlungen angesetzt, bei denen gewerkschaftskritische Politiker referierten. Auch wurde die Abstimmung über Wochen hinausgezögert. „So ging das Momentum verloren“, erklärt der UAW-Chef die Niederlage.
Der Arbeitsmarkt der Region ist leer gefegt
Eigentlich müsste die Position der Beschäftigten derzeit so stark wie lange nicht sein. Bei einer Erwerbslosenquote um 3 Prozent ist der Arbeitsmarkt in der Region nämlich so gut wie leer gefegt. Volkswagen lockt mit einer Einstellungsprämie von 3000 Dollar und hat die Gehälter angehoben. Der Einstiegsstundenlohn liegt nun bei 19,40 Dollar. Mit Zulagen kommt man in der Nachtschicht auf 24,40 Dollar. Trotzdem fällt es dem Unternehmen schwer, die 1000 neuen Stellen zu besetzen. Mittelfristig könnte die Personalnot die Expansion ebenso bremsen wie unvorhersehbare Engpässe bei den Zulieferern.
Doch solche Sorgen wischt VW-Chef Keogh, ein begnadeter Verkäufer, lächelnd beiseite. Unter seiner Führung hat der Autokonzern zuletzt in den USA erstmals seit zehn Jahren schwarze Zahlen geschrieben. Der Dieselskandal scheint vergessen. Inzwischen ärgern sich die Kunden vor allem über die extrem langen Lieferzeiten der begehrten Elektromodelle: Bis mindestens zum Ende diesen Jahres ist der ID.4 in Amerika ausverkauft.
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