Bauministerin zu Besuch in Helsinki

Vorreiter im Kampf gegen Obdachlosigkeit: Was Deutschland von Finnland lernen kann

Eine Obdachlose schläft auf den Stufen vor der Kunsthalle Schirn in Frankfurt. Foto: Arne Dedert/Archivbild

Eine Obdachlose schläft auf den Stufen vor der Kunsthalle Schirn in Frankfurt. Bauministerin Geywitz schaut sich in Finnland an, wie das Land es schafft, die Obdach- und Wohnungslosigkeit zu reduzieren.

Die Finnen seien Pragmatiker, sagt Juha Kahila. Um die Obdach- und Wohnungslosigkeit in ihrem Land in den Griff zu bekommen, hätten sie ihr ganz eigenes „Housing First“-Modell hochgezogen, erklärt der Projektleiter der finnischen Y-Foundation. Die 1985 gegründete Stiftung, die Obdach- und Wohnungslose in feste Wohnungen vermittelt, bekommt mittlerweile viel internationale Aufmerksamkeit.

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An diesem Donnerstag spricht Kahila vor der deutschen Bau- und Wohnungsministerin. Klara Geywitz (SPD) ist in die finnische Hauptstadt Helsinki gereist, um sich selbst ein Bild zu machen von der Situation in Finnland, die in Europa wohl einzigartig ist. Denn das skandinavische Land hat etwas geschafft, woran andere – auch Deutschland – regelmäßig scheitern: Während in den meisten Ländern Europas immer mehr Menschen auf der Straße landen, geht die Obdach- und Wohnungslosigkeit in Finnland seit Jahren stetig zurück. Nach offiziellen Angaben waren es 1980 noch 20.000 Menschen, die in Finnland keine feste Bleibe hatten. Im vergangenen November seien es gerade einmal 3686 gewesen, sagt Teija Ojankoski, die Geschäftsführerin der Y-Foundation ist.

„Housing First“: Die Wohnung kommt zuerst

Die 1985 gegründete Stiftung, wird Klara Geywitz später sagen, stehe sinnbildlich für ein starkes Engagement im Bereich „Housing First“. „Housing First“, das heißt: Erst kommt die Wohnung, dann alles andere. Während hierzulande viele Obdachlose schon daran scheitern, dass sie kein eigenes Bankkonto haben oder sich beispielsweise nach einem Entzug erst auf dem Wohnungsmarkt behaupten müssen, geht es bei „Housing First“ erst einmal um ein festes Dach über dem Kopf. Flankiert wird das Ganze von Betreuungsangeboten wie Suchtberatung, Hilfe bei Behördengängen oder andere Sozialarbeit.

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Im Prinzip gehe es um Normalität, sagt Juha Kahila an Donnerstagmorgen in der finnischen Hauptstadt. „Also komplett normales Wohnen und normales Leben.“ Die finnische Regierung ist von dem Konzept überzeugt: 2008 verschrieb sich die damalige Regierung dem „Housing First“-Gedanken – alle darauffolgenden Regierungen, ganz gleich welcher Couleur, zogen mit. Und Finnland will weitermachen: Bis 2027 soll die Obdach-und Wohnungslosigkeit überwunden sein. Teija Ojankoski hält das für realistisch.

263.000 Menschen in Deutschland ohne festes Obdach

Dass Klara Geywitz an diesem Februartag in den Räumen der Y-Foundation sitzt, ist kein Zufall. Auch Deutschland hat sich ehrgeizige Ziele gesetzt: Die Obdach- und Wohnungslosigkeit soll bis 2030 überwunden sein. Und Geywitz, die eben nicht nur Bau- sondern auch Wohnungsministerin ist, muss diese Aufgabe lösen.

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Doch die Herausforderungen sind riesig: Deutschland ist nicht Finnland, 84 Millionen Einwohner sind ein paar mehr als 5,5 Millionen. Im bevölkerungsreichsten EU-Land sind 263.000 Menschen ohne festes Obdach. Das geht aus einem Wohnungslosenbericht hervor, den die Bundesregierung im vergangenen Dezember erstmals vorlegte. Hinzu dürfte aber noch eine Dunkelziffer kommen. Laut den offiziellen Angaben unterscheiden sich die Menschen in drei Gruppen: 178.000 leben in Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe, 49.000 sind „verdeckt“ wohnungslos, kommen also beispielsweise bei Freunden unter. Auf der Straße und in Behelfsunterkünften leben hingegen „nur“ 37.000 Menschen. Das ist dann gar nicht mehr so weit von den finnischen Ausgangszahlen entfernt, aber die Skandinavier arbeiten auch schon seit vielen Jahren an der Lösung des Problems.

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Ehrgeiziges Ziel für Deutschland – zu ehrgeizig?

Der Weg wird lang und mühsam, das weiß auch Geywitz. Und sie weiß auch, was es heißt, ehrgeizige Ziele zu haben – und sich unterwegs doch in Bescheidenheit üben zu müssen. Gerade erst räumte sie ein, dass das Vorhaben, jährlich 400.000 Wohnungen zu schaffen, 2022 und 2023 wohl nicht erreicht werde. Bis vor Kurzem hielt sie daran fest.

Das Prinzip „Housing First“  geht davon aus, dass bei Obdachlosen zunächst das Wohnproblem gelöst sein muss, bevor weitere Hilfsangebote greifen können.

Das Prinzip „Housing First“ geht davon aus, dass bei Obdachlosen zunächst das Wohnproblem gelöst sein muss, bevor weitere Hilfsangebote greifen können.

Und auch jetzt, während die Baubranche in eine handfeste Krise rutscht, scheint das Ziel, bis 2030 die Obdach- und Wohnungslosigkeit zu überwinden, beinahe illusorisch. „Nur weil ein Ziel schwierig ist, muss man ja nicht sagen, man lässt es sein“, sagt Geywitz später dazu. Ein Satz, den sie so in der Richtung schon öfter hatte sagen müssen.

Aktionsplan soll in diesem Jahr kommen

Doch Finnland zeigt ja, dass es geht – und daran hält die Besucherin aus Deutschland sich fest. Und selbst, wenn die Nordeuropäer die Wohnungslosigkeit nicht komplett überwinden sollten – denn auch im skandinavischen Land gibt es Menschen, die beispielsweise ohne Papiere sind und durchs Raster zu fallen – wären sie Vorreiter. Das finnische Modell scheint sich bislang bewährt zu haben.

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Das auf Deutschland zu übertragen, dürfte nicht einfach sein. Die Finnen hätten mehrere Jahrzehnte Vorsprung, sagt Geywitz, als ihr Besuch in der Y-Foundation zu Ende geht. Einen ersten Anfang will sie in diesem Jahr zumindest machen: Dann soll ein Aktionsplan erarbeitet werden, der erste konkrete Maßnahmen enthalten soll.

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