Sind die Lebensmittelretter von „Too Good to Go“ ein Krisengewinner?
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Über die App "“Too Good To Go“ können Nutzerinnen und Nutzer Tüten mit Lebensmitteln zu einem vergünstigten Preis kaufen.
© Quelle: Thomas Kube
Im September wurde Too Good to Go in einer Umfrage zur meistempfohlenen Marke in Deutschland gekürt. Herr Hennen, sind Sie mit Too Good to Go ein Krisengewinner?
Seit der Gründung vor sieben Jahren haben wir ein konstantes, sehr beeindruckendes Wachstum. Wir merken, dass durch Inflation und Preisdruck Lebensmittelverschwendung noch mehr in den Fokus rückt – es gibt bei uns aber keine sprunghafte Wachstumssteigerung durch die Krise. Es sind nach wie vor beeindruckende Zahlen, aber die hatten wir schon vorher.
Aktuell haben sie in Deutschland acht Millionen Nutzer und 16.000 Partnerläden. Wie sahen diese Zahlen vor einem Jahr aus?
Da können Sie ungefähr von der Hälfte ausgehen. Wir hatten in diesem Zeitraum zwischen 80 und 100 Prozent Wachstum. Unsere Kernkennzahlen sind unsere geretteten Überraschungstüten pro Tag. Seit Anfang des Jahres ist der Schnitt vom 20.000 auf etwa 35.000 gestiegen. Wir hatten also eine Steigerung von fast 50 Prozent.
Der durchschittliche Tütenpreis beläuft sich derzeit auf 3,50 Euro. Müssen auch die Partnerläden die Preise für die Lebensmitteltüten aufgrund der gestiegenen Preise erhöhen?
Wenn die Preise im Lebensmitteleinzelhandel weiter so anziehen, werden einige Partnerbetriebe mit Sicherheit darüber nachdenken. Aufgrund der Preissteigerungen gibt es zwei Möglichkeiten: Die Partnerläden können die Preise verändern. Oder es kommen weniger Waren in die Tüten – weil der ursprüngliche Warenwert sich verändert hat. Das wird wohl am häufigsten passieren. Bei den Preisen für die Tüten sehen wir keine großen Veränderungen.
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Der Deutschland-Chef von Too Good to Go, Wolfgang Hennen
© Quelle: Too Good to Go
Welche Art von Betrieben sind auf Ihrer Plattform am häufigsten vertreten?
Das größte Segment sind Bäckereien. Das liegt auch am Geschäftsmodell: Weil sie dem Kunden auch noch kurz vor Ladenschluss eine große Auswahl anbieten müssen. Danach kommen Supermärkte und Hotels. Wobei wir bei unseren Partnerbetrieben im Hotelbereich merken, dass sehr große Unsicherheit herrscht – sie haben zum Teil Personalmangel und können nicht auf voller Kapazität fahren. Trotzdem werden auch dort noch überschüssige Lebensmittel produziert.
Wenn ich Ihre App benutze, holt mit mir oft eine eher junge, hippe Klientel Lebensmittel ab. Nützt die App vor allem umweltbewussten Leuten, die in der Biobäckerei ein Schnäppchen machen wollen – und auch sonst auf einen gehobenen Lebensstandard achten?
Wir machen wenig Marktforschung. Wir wissen aber, dass unserer Zielgruppe sehr divers ist: Ein großer Anteil der Kundschaft ist beispielsweise über 40 oder 50 Jahre alt. Viele kommen auch aus dem ländlichen Bereich. Zugleich sind wir in 900 Städten in Deutschland präsent. Wir können keine eindeutige Nische erkennen. Am Anfang der App war es sicherlich so, da kamen die Konsumenten eher aus dem urbanen First-Mover-Bereich. Mittlerweile decken wir die gesamte Bevölkerung ab.
Die Tafel und wir, das sind komplementäre Systeme.
Wolfgang Hennen, Deutschland-Chef von „Too Good to Go“
Die Tafeln in Deutschland haben aktuell zu kämpfen, weil immer mehr Menschen zu ihnen kommen, sie oft aber weniger Lebensmittel zur Verfügung haben. Werden durch Too Good to Go Lebensmittel vermittelt, die an anderer Stelle dringend fehlen?
Wir sind überzeugt davon, dass das nicht der Fall ist. In Deutschland werden jedes Jahr 18 Millionen Tonnen Lebensmittel verschwendet. Seitdem wir existieren, haben wir 19 Millionen Portionen gerettet. Das ist beeindruckend – aber nur ein minimaler Bruchteil dieser 18 Millionen Tonnen. Wir begrüßen jeden, der an unserer Mission teilhat, Lebensmittelverschwendung zu reduzieren. Jeder hat seine Herangehensweise; die Tafel und wir, das sind komplementäre Systeme.
Für viele Partnerbetriebe ist Too Good To Go außerdem eine Ergänzung zu bestehenden Maßnahmen gegen Lebensmittelverschwendung. Was über Spenden hinaus übrig bleibt oder aus hygiene-rechtlichen oder logistischen Gründen nicht gespendet werden kann, kann über die Too Good To Go-App vermittelt werden.
Sind sie in Kontakt mit den Tafeln, um eventuell zusammenzuarbeiten?
In anderen Ländern bestehen bereits feste Kooperationen zwischen Tafelorganisationen und Too Good to Go. In Deutschland gibt es dahingehend derzeit einen Ideenaustausch.
Sie haben die 18 Millionen Tonnen an weggeworfenen Lebensmitteln in Deutschland angesprochen. Profitieren Sie von einem kaputten System?
Das System ist kaputt, das ist definitiv der Fall. Unsere Mission ist es, die Effekte dieses kaputten Systems zu lindern. Wenn man es runterbricht auf jeden Einzelnen, sind wir bei 78 Kilogramm verschwendeter Lebensmittel pro Person. Insgesamt werden ein Drittel aller produzierten Lebensmittel weggeschmissen – das sind Riesenmengen. Lebensmittelverschwendung ist ein globales Problem und leider ist Deutschland davon genauso betroffen wie alle anderen Länder auch.
Der deutsche Kunde ist im europäischen Vergleich sehr preissensibel.
Wolfgang Hennen,
Deutschland-Chef von „Too Good to Go“
Wie würden sie die Konsumenten hierzulande charakterisieren? Die Deutschen gelten gemeinhin als sparsam.
Der deutsche Kunde ist im europäischen Vergleich sehr preissensibel, das stimmt. Nicht umsonst kommen die erfolgreichsten Discounterkonzepte alle aus Deutschland, die Filialdichte ist hier sehr hoch. Auf der anderen Seite sind auch die Erwartungen der Kunden, was zum Beispiel die Auswahl am Ende des Tages angeht, sehr hoch.
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Aktuell heißt es, dass Ihr Unternehmen rote Zahlen schreibt. Woran liegt das?
Die Strategie von Too Good to Go war in den Anfangsjahren auf Wachstum fokussiert, um möglichst viele Lebensmittel zu retten. Jetzt geht es darum, in den bestehenden Märkten zu wachsen und erst einmal keine neuen Länder anzuschließen. Bis Ende des Jahres wollen wir in den schwarzen Zahlen sein. Und aktuell sieht es sehr gut aus, dass wir dieses Ziel erreichen werden.
Herr Hennen, ihre Eltern waren im diplomatischen Dienst und in der Entwicklungshilfe tätig. Sie sind deshalb in Burkina Faso und in Ruanda aufgewachsen. Wie hat Sie diese Zeit dort geprägt?
Das war genau in der prägenden Phase, im Alter von elf bis 17 Jahren. Lebensmittel wurden dort anders wertgeschätzt, die Versorgung mit frischer und gesunder Ware war keine Selbstverständlichkeit. Als ich als junger Erwachsener wieder nach Europa gekommen bin, habe ich einmal Bekannte besucht. Die haben Brühwürstchen warm gemacht, dabei sind die Häute aufgeplatzt – und dann haben sie die Würstchen weggeschmissen. Ich stand daneben und dachte: Meine Güte, das Produkt ist doch noch gut. Aber die wollten neue holen. Das hat mich geschockt. Diese Unachtsamkeit ist symptomatisch – weil wir hier in einem wahnsinnigen Überfluss leben.
ZUR PERSON
Wolfgang Hennen, 50, arbeitet seit mehr als 15 Jahren in der Lebensmittelbranche. Nach unterschiedlichen Führungspositionen bei einem großen internationalen Lebensmitteldiscounter war er zuletzt als selbstständiger Berater für Start-ups im Bereich Lebensmitteleinzelhandel und Systemgastronomie tätig. Seit Sommer 2022 führt er das deutsche Too Good To Go-Team. Auch in seiner Freizeit widmet sich Hennen der Wiederverwertung: Er restauriert hobbymäßig alte Boote.