Kriminelle Pflegedienste betäubten Patienten und ergaunerten Millionen

Über 200 Büros ambulanter Pflegedienste, Patienten- und Privatwohnungen sowie Arztpraxen waren am Mittwoch in Augsburg und München durchsucht worden.

Über 200 Büros ambulanter Pflegedienste, Patienten- und Privatwohnungen sowie Arztpraxen waren am Mittwoch in Augsburg und München durchsucht worden.

Oberstaatsanwalt Hans Kornprobst kommt gleich zur Sache. „Es geht nicht um Zweifelsfälle sondern um Totalfälschungen“, sagt der Ermittler. Denn wer noch munter als Schweißer arbeitet oder als Verkäufer in einem Kiosk, kann nicht gleichzeitig pflegebedürftig sein. Auf solche Fälle sind die Ermittler aber in über zwei Jahren mühsamer Kleinarbeit gestoßen, was am Mittwoch zum bundesweit bislang größten Schlag gegen organisierten Abrechnungsbetrug durch Pflegedienste geführt hat. 650 Polizisten und 33 Staatsanwälte durchsuchten am Mittwoch Pflegedienste, Arztpraxen und Wohnungen in Augsburg und München.

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Oft in Zusammenarbeit mit angeblichen Patienten wurden Kranken- und Pflegekassen sowie Sozialhilfeträger um mindestens eine hohe einstellige Millionensumme geschädigt, fasste Oberstaatsanwalt Richard Findl zusammen. Es könnte aber auch noch mehr werden, wenn alles beschlagnahmte Material ausgewertet ist. Das füllt nach Findls Angaben in Kartons verpackt mehrere Lagerräume.

13 Personen in Haft

Über 200 Büros ambulanter Pflegedienste, Patienten- und Privatwohnungen sowie Arztpraxen waren am Mittwoch in Augsburg und München durchsucht worden. „Uns ging es um die kriminellen Köpfe“, erklärt Kriminaldirektor Gerhard Zintl tags darauf. In Untersuchungshaft genommen worden sind 13 Personen, bis auf eine allesamt Pflegedienstleiter oder Geschäftsführer. Einer von ihnen habe 2,5 Millionen Euro in bar in einem Bankschließfach deponiert gehabt, ein anderer 1,2 Millionen. In der Privatwohnung eines Pflegedienst-Geschäftsführers wurden 3 Millionen Euro Bargeld beschlagnahmt. Auch Goldbarren, Rolex-Uhren und teurer Schmuck wurden sichergestellt.

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„Das hat nichts mit Kleinkriminellen zu tun“, stellt Zintl klar. Insgesamt seien Vermögenswerte im Umfang von 8 Millionen Euro gesichert worden. Das zählen der tagsüber gefundenen Geldbündel habe bis nach Mitternacht gedauert. Bei Bargeld dieser Menge sei klar, dass es nicht aus regulären Wirtschaftskreisläufen stamme. Die Auswertung aller Unterlagen werde Monate, wenn nicht sogar Jahre dauern.

Gab es ein Netzwerk korrupter Pflegedienste?

Zum Teil hätten die zehn Pflegedienste untereinander auch in Kontakt gestanden, ergänzte Staatsanwalt Findl. Aufzudecken sind solche Netzwerke aber schwer, weil der Kreislauf aus Patienten, Angehörigen und Pflegediensten in sich geschlossen ist und die Medizinischen Dienste der Krankenversicherungen (MDK) sich für Kontrollbesuche vorher anmelden müssen. Dann werden schnell Rollatoren oder gebrauchte Krücken in die Wohnungen der angeblichen Patienten gebracht. Die spielen dem MDK dann etwas vor.

Allein im Fall des Schweißers, der angeblich pflegebedürftig war, sind so für – nicht erbrachte – Dienste wie Rasieren, Waschen und Hilfe beim Anziehen über die Zeit 60.000 bis 70.000 Euro abgerechnet worden. Wer einen Patienten spielt, wird mit Kleinbeträgen von 20 bis 130 Euro abgespeist, erzählen die Ermittler. Die Millionensummen fließen in andere Kanäle.

Patienten absichtlich betäubt

Es gab im aktuellen Fall aber auch echte Patienten, und die waren nicht immer freiwillig mit von der Partie. „Eine Patientin hat ohne Zustimmung ein hoch dosiertes Beruhigungsmittel erhalten, um bei einer MDK-Prüfung den Eindruck einer apathischen Patientin zu vermitteln“, schildert Findl einen besonders krassen Fall. Anderen Patienten sei die Verabreichung lebenswichtiger Medikamente selbst überlassen worden. Abgerechnet worden sei die angebliche Gabe dennoch. „Die zocken nicht nur ab, denen ist bisweilen auch das Leben von Menschen egal“, ergänzt Kriminaldirektor Zintl.

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Unser Gesundheitswesen ist in Teilen ein Schlaraffenland für Kriminelle.

Oberstaatsanwalt Hans Kornprobst

Hauptsächlich kämen die rund 40 Hauptbeschuldigten aus Osteuropa, sagt Findl. Auch deutsche Staatsbürger seien darunter. Die Osteuropäer seien aber nicht eigens zum Pflegebetrug angereist. Sie lebten schon länger in Deutschland. „Das ist unser eigenes Problem“, betont der Ermittler.

Es sei die Kombination aus viel Geld, mangelnder Kontrollierbarkeit und allgemeinem Pflegenotstand, der schwarze Schafe anziehe, erklärt Kornprobst. Im deutschen Gesundheitswesen würden täglich eine Milliarde Euro ausgegeben. Pro Jahr sei das mehr als der Bundeshaushalt. „Unser Gesundheitswesen ist in Teilen ein Schlaraffenland für Kriminelle“, betont der Oberstaatsanwalt und kündigt weitere Ermittlungen an. Mittlerweile hätten Staatsanwaltschaften so weit aufgerüstet, dass auch komplexe Ermittlungen in der Pflegebranche zum Erfolg führten.

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