Designierte DGB-Chefin Fahimi gesteht: „Ich habe noch nie gestreikt“
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Yasmin Fahimi, designierte Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), nach ihrem Interview mit dem RND.
© Quelle: Florian Gaertner/photothek.de
Berlin. Yasmin Fahimi ist derzeit in Abschiedsstimmung. Die SPD-Politikerin aus Hannover erlebt ihre letzten Tage als Abgeordnete des Deutschen Bundestages. Am 9. Mai will die 54-Jährige sich beim Bundeskongress des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) zur Nachfolgerin des scheidenden DGB-Chefs Reiner Hoffmann wählen lassen. Sie wäre die erste Frau an der Spitze der deutschen Gewerkschaftsbewegung. Kurz vor dem 1. Mai empfängt sie die RND-Redakteure in einem Besprechungsraum des Bundestages zum Interview.
Frau Fahimi, der russische Krieg in der Ukraine bedeutet für Deutschland Inflation, weniger Wachstum und höhere Schulden. Müssen die Deutschen damit leben, dass sie jetzt ärmer werden?
Ich finde die Beschreibung „wir werden jetzt alle ärmer“ sehr irritierend. Da frage ich mich, wer „wir“ ist. Allein die 100 reichsten Deutschen haben in der Pandemie nochmal über 100 Milliarden Euro mehr angehäuft. Die Erfahrung zeigt doch: Egal, welche Krise wir bisher durchlebt haben, die Armen werden ärmer und die Reichen reicher. Wir müssen jetzt alles tun, um zu verhindern, dass genau das wieder passiert. Mehr noch: Wir müssen diese Entwicklung umkehren.
+++ Alle Entwicklungen zum Krieg gegen die Ukraine im Liveblog +++
Sie wollen Reiche also stärker belasten?
Unbedingt. Die Vermögen sind ungerecht verteilt, der Investitionsbedarf ist gigantisch. Der Krieg in der Ukraine stellt Deutschland vor enorme zusätzliche Herausforderungen: Wir müssen unsere eigene Wirtschaft stärken, riesige Summen sollen für Verteidigung ausgegeben werden, und der Ukraine müssen wir humanitär helfen. Das alles neben der Transformation und dem beschleunigten Umbau unserer Energieversorgung – es stellt sich die Frage, wer das alles bezahlt. Gerade angesichts der Folgen des Kriegs in der Ukraine ist es überfällig, in Deutschland einen gerechten Lastenausgleich zu schaffen.
Was schlagen Sie vor?
Wir müssen die Vermögenssteuer wieder einführen. Menschen mit kleinen und mittleren Einkommen brauchen dringend steuerliche Entlastung. Im Gegenzug sollen diejenigen mit sehr hohen Einkommen mehr zahlen. Und: In dieser historischen Situation brauchen wir eine Sondervermögensabgabe, die sich als mehrjähriger Lastenausgleich in der Gesellschaft gestalten ließe.
Sollen wir wirklich mitten in der Krise Steuern erhöhen?
Wann denn sonst? Jetzt brauchen wir die Zukunftsinvestitionen, um aus der Krise rauszukommen. Außerdem sehen wir jetzt schon wieder, dass es in der Krise Mitnahmeeffekte gibt. Viele Unternehmen erhöhen aus spekulativen Gründen ihre Preise. Andere schieben die momentane Krise als Vorwand vor, um Standorte zu schließen.
Lieferstopp wäre dramatisch
Was würde es für Wirtschaft und Arbeitsplätze bedeuten, wenn Putin die Gaslieferungen nach Deutschland von einem zum anderen Moment stoppen sollte?
Ein kurzfristiger Stopp aller russischen Gaslieferungen nach Deutschland würde die Wirtschaft vor riesige Probleme stellen. 30 Prozent des gesamten Gasverbrauchs in Deutschland gehen in die industrielle Produktion. Der Totalausfall russischen Gases würde bedeuten, dass ganze Industriestandorte und Branchen in Deutschland dauerhaft verschwinden würden. Denken Sie nur an Glas, Zement und Aluminium. Das hätte auch massive Folgen für die Bauindustrie, den Maschinenbau und viele andere.
Was folgt daraus politisch?
Deutschland muss sich Schritt für Schritt von russischem Gas unabhängig machen. Die deutsche Politik darf aber nicht der Emotion nachgeben, dass wir unsererseits einen unmittelbaren Gasboykott aussprechen. Der würde Deutschland stärker treffen als Russland und auch unsere Fähigkeit vermindern, die Ukraine zu unterstützen.
Hat das, was wir zur Rettung unserer Wirtschaft tun müssen, jetzt für begrenzte Zeit auch Vorrang vor dem Kampf gegen den Klimawandel?
Ich will da nichts gegeneinander ausspielen. Wir brauchen eine größere Dynamik in allen Fortschrittsprojekten – das gilt ohne Abstriche auch für den Ausbau der erneuerbaren Energien. Wir brauchen eine Zeitenwende, die nicht nur verteidigungspolitisch angelegt ist, sondern auch die Lösung sozialer, ökologischer und ökonomischer Probleme umfasst. In der aktuellen Krise müssen wir das pragmatisch angehen.
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Das klingt gut. Aber was bedeutet es praktisch?
Deutschland sollte in der Klimakrise keine Ziele revidieren. Wir müssen aber auch auf Gleichzeitigkeit setzen: Wir müssen die Energiewende vorantreiben, aber auch auf das schauen, was wir derzeit zur Verfügung haben, um die Energieversorgung zu sichern. Das kann auch bedeuten, dass Kohlekraftwerke mittelfristig länger in der Sicherheitsreserve verbleiben müssen, um so einen Beitrag zur Versorgungssicherheit zu leisten.
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Designierte DGB-Chefin Yasmin Fahimi: „Egal, welche Krise wir bisher durchlebt haben, die Armen werden ärmer und die Reichen reicher.“
© Quelle: Florian Gaertner/photothek.de
Brauchen wir wegen der Inflation deutliche Lohnerhöhungen? Oder Lohnzurückhaltung, um die Inflation nicht weiter anzuheizen?
Gesamtwirtschaftlich ist klar: Wir müssen die Kaufkraft stärken. Deswegen braucht es auch eine Lohnentwicklung, mit der die Inflation ausgeglichen wird. Das gilt erst recht, da die Inflation sich nicht auf Lohnsteigerungen der Vergangenheit gründet – sondern auf die Folgen von Krisen, Krieg und Lieferkettenunterbrechungen.
Das stimmt. Aber die Inflation ist nun mal da. Ökonomen warnen vor einer Lohn-Preis-Spirale, die schwer wieder einzufangen wäre.
Noch mal: Die Inflation ist nicht der Lohnentwicklung geschuldet. Und deshalb muss sie auch anders bekämpft werden. Die Mär von der Lohn-Preis-Spirale ist nichts anderes als der Versuch, Inflation und Krisenbewältigung auf die Masse der Verbraucher abzuwälzen. Und es heißt letztlich Reallohneinbußen. Je nach Branche gibt es auch weiterhin Produktivitätssteigerungen. Auch die sollten an die Beschäftigten weitergegeben werden.
Können Geflüchtete einen Beitrag dazu leisten, das Fachkräfteproblem in Deutschland zu lösen?
Ja. Die Menschen, die – aus welchen Gründen auch immer – nach Deutschland gekommen sind, haben unser Land über Jahrzehnte mit aufgebaut. Wie schnell wir sie in den Arbeitsmarkt integrieren konnten, hing immer auch davon ab, ob wir politisch klug agiert haben. Die Geflüchteten aus der Ukraine können einen großen Beitrag im Kampf gegen den Fachkräftemangel leisten. Deutschland geht die Integration besser an als je zuvor: Die Menschen können sofort arbeiten, wenn sie möchten. Bund und Länder müssen aber jetzt für schnellere und unbürokratische Anerkennung der Qualifikationen sorgen, die diese Menschen mitbringen – und für eine dauerhafte Bleibeperspektive.
Bleibt diese Willkommenskultur – politisch, gesellschaftlich – jetzt auf Dauer?
Ich wünsche mir das sehr, aber da liegt noch viel Arbeit vor uns. Für die Geflüchteten aus der Ukraine ist die Solidarität riesengroß – bei fast allen. In den Jahren 2015 und 2016 hat sich aber auch gezeigt, dass es anders laufen kann. Menschen sind als nicht in unseren Kulturkreis integrierbar diffamiert worden. Ihnen wurde wegen ihrer Religion sogar unterstellt, dass sie potenzielle Terroristen sind. Diesen Rassismus und diese Vorurteile haben wir noch nicht überwunden. Wir dürfen nicht in diese Muster zurückfallen, wenn in einigen Jahren – aufgrund einer neuen Krise – wieder andere Menschen als die aus der Ukraine zu uns kommen.
Ihr Lebensgefährte Michael Vassiliadis ist Chef der IG BCE und war in die Suche nach einer neuen Person für die DGB-Spitze stark eingebunden. Haben Sie nie überlegt, das Angebot deshalb abzulehnen?
Nein, das war für mich kein Kriterium. Ehrlicherweise finde ich die Frage auch ziemlich antiquiert, weil sie aus einer Zeit kommt, in der immer nur ein Teil eines Paares Karriere machen konnte – und zwar in den allermeisten Fällen der Mann. Ich glaube, dass wir diese Zeit endlich hinter uns lassen sollten.
Mit Verlaub: Es geht bei der Frage nicht um Karrieremöglichkeiten von Frauen, es geht darum, dass Ihr Lebensgefährte Vorsitzender einer Findungskommission war, die Sie gefunden hat. Die Frage, wie hierbei Berufliches von Privatem getrennt wurde, erscheint uns legitim.
Ich wurde nicht von Michael Vassiliadis vorgeschlagen, sondern von IG Metall-Chef Jörg Hofmann. Und es gab mehrere Vorschläge, zwischen denen sich die Vorsitzenden aller acht Mitgliedsgewerkschaften einstimmig für mich entschieden haben. Daher kandidiere ich beim Ordentlichen Bundeskongress für das Amt und stelle mich den Delegierten dieses Kongresses zur Wahl. Die Stimme meines Lebensgefährten war jedenfalls nicht entscheidend. Es gab keinen Interessenkonflikt zwischen Beruflichem und Privatem. Sollte es künftig jemals einen geben, was ich nicht sehe, würden wir damit transparent umgehen.
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Designierte DGB-Chefin Yasmin Fahimi mit RND-Redakteuren Tobias Peter (l.) und Andreas Niesmann.
© Quelle: Florian Gaertner/photothek.de
Nach acht Jahren in der Spitzenpolitik kehren Sie in den Schoß der Gewerkschaften zurück. Überwiegt die Freude oder Abschiedsschmerz?
Es überwiegt die Freude. Die Verantwortung, die man als Abgeordnete trägt, macht aber auch demütig. Schmerzlich ist daher, das Mandat abzugeben, für das ich direkt von den Menschen in Hannover gewählt worden bin. Dieses Vertrauen hat mich sehr geehrt. Ganz ehrlich: An dem Abend, als ich den Ortvereinsvorsitzenden meines Wahlkreises erklärte, dass ich das Mandat abgeben muss, habe ich geheult.
Sie waren Generalsekretärin der SPD unter dem Parteivorsitzenden Sigmar Gabriel. Was macht eigentlich einen guten Chef aus?
Ich setze auf regelmäßige und verlässliche Rücksprachen, transparente und verlässliche Arbeitsabläufe, Fairness und Vertrauen. Ich will, dass jede und jeder am richtigen Platz ihre oder seine eigenen Fähigkeiten und Stärken einbringen kann.
Sie haben viel für die Gewerkschaft gearbeitet und wurden dann Abgeordnete im Deutschen Bundestag. Hat die wahrscheinlich zukünftige DGB-Chefin Yasmin Fahimi in ihrem Leben überhaupt schon mal gestreikt?
Nein, tatsächlich nicht. Aber ich habe schon viele Streiks unterstützt und begleitet. Und mich hat stets beeindruckt, wie Kolleginnen und Kollegen Druck und Widrigkeiten aushalten – nicht allein für die eigenen Interessen, sondern um miteinander solidarisch zu sein.