Jungstraum Lokführer? Bahn findet keinen Nachwuchs mehr
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„Die Technik, der Wechsel der Landschaft, die Städte, die Geschwindigkeit“: Lokführer Stefan Thiel im ICE.
© Quelle: Fotos: Bertram Solcher (2), Tim Schaarschmidt
Hamburg. Stefan Thiel wäre dann jetzt so weit. Sein Zug auch. Der ICE 658 steht im Bahnhof Hamburg-Altona bereit, auf Gleis 10. Thiel, 48 Jahre, Lokführer aus Überzeugung, sitzt auf seinem Platz über den Schienen, vor sich Hebel, Bildschirme, Anzeigen und den Blick durch die Scheibe auf die beiden Linien, die seinen Zug hinausführen in die Welt. Oder jedenfalls erst mal nach Hannover.
Er wird nun noch gleich die Systeme checken, alles einmal durchspielen, „Zwangsbremsung“ wird die blecherne Computerstimme warnen, zum Test. Aber jetzt klingelt erst mal das Telefon.
Der Zugführer ist dran. Ob Thiel am nächsten Bahnhof einen Milchkaffee möchte. Gebracht natürlich, nach vorne in den Triebkopf.
Nun taugt Milchkaffee nur bedingt als Gradmesser für die Attraktivität einer Arbeit. Es gibt Jobs, die bleiben auch bei einer Flatrate des feinsten Cappuccinos der Welt unerträglich.
Aber bei Stefan Thiel ist das nicht so. Da ist es ein Zeichen für obendrein auch noch angenehme Kollegen. Zusätzlich zu einer Arbeit, bei der es bloße Untertreibung ist zu sagen, er mache sie gern.
„Die Technik, der Wechsel der Landschaft, die Städte, die Geschwindigkeit“, wird Thiel später, nach der Fahrt, aufzählen. „Das ist wie ein Virus, das mich hier hält.“ Ein Begeisterungsvirus, könnte man sagen.
Und das will jetzt also niemand mehr machen? Den alten Jungstraum Lokführer, da winken jetzt alle ab? Oder jedenfalls so viele, dass Züge im Betriebsbahnhof bleiben, samt Schild „Heute keine Fahrt – Personalmangel“? Kann das sein?
Es deutet vieles darauf hin. Und das ist ein großes Problem. Nur: Wie lässt es sich lösen?
Wo sind die Fachkräfte hin?
Fachkräftemangel, das ist ein schwieriger Begriff. Weil er, einerseits, ein Phänomen beschreibt, das jeder kennt. Der Klempner, den man so dringend braucht, kann frühestens in drei Monaten? Der Kindergarten macht dicht, weil es keine Erzieher gibt? Unternehmen suchen vergeblich nach fähigen Programmierern? Da nicken alle wissend. Fachkräftemangel, schon klar.
Doch bei einem genaueren Blick wird es meist kompliziert. Fehlen in einem Bereich zum Beispiel wirklich qualifizierte Mitarbeiter – oder möchten Unternehmen nur nicht die entsprechenden Löhne zahlen? Ist die Alterung der Gesellschaft Grund für einen Mangel an jungen Arbeitskräften – oder scheuen Betriebe die Mühe von Lehre und Ausbildung? Sind sich junge Menschen heute für manche Berufe schlicht zu fein? Und müsste ein Mangel an Mitarbeitern in einer Branche nicht automatisch zu einer besseren Bezahlung führen, die, schwups, jeden Mangel bald behebt?
Das sind einige der Fragen, um die es geht, um beim Fachkräftemangel zu unterscheiden: zwischen der echten und der unechten Variante. Am Ende, sagen Experten, hilft nur der Blick auf jede einzelne Branche.
29 298 Lokführer waren in Deutschland im Jahr 2017 beschäftigt, laut einer Statistik der Bundesagentur für Arbeit und des Verbandes Deutscher Verkehrsunternehmen. Wie viele Jobs unbesetzt sind, ist nicht leicht zu ermitteln. Das Portal schienenjobs.de der Allianz pro Schiene weist für die Berufe Lokführer und Triebfahrzeugführer Ende Mai 722 offene Stellen aus. Tatsächlich fehlten bei allen deutschen Bahnunternehmen zusammen rund 1500 Lokführer, erklärt Claus Weselsky, Chef der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer, der sich dabei auf Angaben der Unternehmen selbst beruft. Als verlässlicher Indikator gilt zudem die Frist, wie lange eine Stelle im Schnitt unbesetzt bleibt, die Vakanzzeit. Laut Bundesagentur für Arbeit lag sie 2018 bei 142 Wochen. Es ist einer der höchsten Werte in der Statistik.
Es ist eine kleine Branche mit einem kleinen Mangel – der aber gravierende Folgen hat. Seit Jahren fallen in Deutschland immer wieder Züge aus, weil Lokführer fehlen. Ob beim Unternehmen Abellio in Sachsen-Anhalt oder bei der DB Regio in Nordrhein-Westfalen: Auch in diesem Jahr warteten viele Bahnkunden schon vergeblich auf Züge. Die Nordwestbahn in Niedersachsen etwa musste erst am Freitag erneut mehrere Zugverbindungen streichen. Personalengpässe.
Der ICE 685 rollt langsam durch Hamburg, vorbei am Schanzenviertel, durch den Dammtor-Bahnhof, dann rechts die Binnenalster, Blick auf den Jungfernstieg im Abendlicht. Stefan Thiel sieht nicht hinüber, nur auf die Trasse vor ihm.
„Hamburg ist ein Nadelöhr“, wird er später erklären, nach der Fahrt. Ein Ort, wo sich Güter-, Fern- und Regionalzüge um den Platz auf den wenigen alten Gleisen drängeln.
Ein untypischer Lokführer
Stefan Thiel ist in mancher Hinsicht ein untypischer Lokführer. Als er 1992 zur Bahn kam, nach seiner Lehre, und seine Lokführer-Ausbildung absolviert hatte, war er einer der Letzten, die noch verbeamtet wurden. Deshalb hat er mehr Sicherheit – und mehr Geld als jene 38 000 bis 50 000 Euro, die ein Lokführer heute verdient.
Andererseits ist er mit seiner Begeisterung aber auch exemplarisch für einen Berufsstand, der sich, allen Überstunden und steigender Arbeitsbelastung zum Trotz, immer noch überdurchschnittlich mit seiner Arbeit identifiziert. Als Junge hatte Stefan Thiel einen Freund, mit dem er sich etwas vornahm: Er würde Lokführer werden, sein Kumpel Pilot. Als sie sich neulich beim Klassentreffen wieder begegneten, stellten sie fest: alle Ziele erreicht.
Wie Thiel die Geschichte erzählt, gibt es da für ihn keinen großen Unterschied: Pilot, Lokführer, das ist da eine Stufe. Es gab Zeiten, da haderte auch Thiel mit seinem Beruf. Das war, als er nach der Ausbildung auf dem Maschener Bahnhof Güterzüge rangierte. Thiel ging, studierte Maschinenbau – und kehrte trotz und mit Diplom auf die Lok zurück.
Die Züge hatten ihm gefehlt. Man muss das mit dem Virus durchaus wörtlich verstehen.
Hinter dem Hamburger Hauptbahnhof kann Thiel seinen 210 Meter langen Zug etwas beschleunigen. Aber vor der Brücke über die Süderelbe muss er schon wieder abbremsen, zeigt ihm das Signal. Langsamfahrstrecke, so heißt das im Bahndeutsch. 30 Kilometer pro Stunde, mehr verträgt die Strecke hier gerade nicht.
„Unpünktlichkeit schmerzt“
„Ich wünsche mir, dass die Politik die Bahn mehr pusht“, sagt er. Dass sie also die Strecken entschiedener modernisiert, auf denen er täglich unterwegs ist. Natürlich kennt er das angeknackste Image der Bahn, den Zorn vieler Pendler wegen Verspätungen. Aber er sieht sich da als machtlos, als Opfer einer Vernachlässigung, unter der er selbst leidet. Jeder Lokführer, sagt er, hat den Ehrgeiz, pünktlich zu sein. „Und es schmerzt, wenn das nicht gelingt.“
Fragt man die Bahn, was sie gegen den Mangel an Lokführern tun will, verweist sie auf ihre „groß angelegte Einstellungsoffensive“: 2000 Männer und tatsächlich auch Frauen (deren Anteil bei gerade mal 2,7 Prozent liegt) will sie bis Ende des Jahres rekrutiert haben und dann (in drei Jahren oder, bei Quereinsteigern, zehn Monaten) zu Lokführern ausbilden.
Fragt man dagegen den stets konfliktfreudigen obersten Lokführer-Gewerkschafter Wesel,0sky, dann glaubt er nicht daran. „Nicht alle schließen die Ausbildung auch ab“, gibt er zu bedenken – und schimpft dann über ein „Versagen der Bahn-Manager in der Vergangenheit“, über „Personalplanung nach Budget“ statt nach dem Bedarf der Bahn. Zudem habe der frühere Bahnchef Hartmut Mehdorn mit seiner Vision von bald vollautomatisierten Zügen junge Leute abgeschreckt. „Dabei sind wir noch lange nicht beim autonomen Fahren“, zürnt Weselsky.
Aber wäre das nicht vielleicht eine Lösung? Wenn es an Menschen ohnehin mangelt: Könnte Technik sie ersetzen?
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Lokführer Stefan Thiel im hannoverschen Hauptbahnhof in/vor "seinem" ICE. - Foto Tim Schaarschmidt
© Quelle: Tim Schaarschmidt
Von Komplettdigitalisierung und Automatisierung scheint diese Bahnwelt noch sehr weit entfernt.
Dabei kann es ja wirklich sehr leicht so wirken, als könne auch ein Autopilot seinen Job leicht übernehmen. Der Spielraum dessen, was Thiel tut, ist überschaubar. Er fährt die Geschwindigkeit, die ihm der Plan auf seinem iPad vorgibt. Jedes Signal am Streckenrand muss er mit einem Knopfdruck quittieren. Und während draußen die niedersächsischen Felder an ihm vorbeiziehen, muss er alle paar Sekunden mit dem Fuß ein Pedal drücken, das seine Aufmerksamkeit beweist. Sonst ertönt die Automatenstimme, „Zwangsbremsung“, und sein Zug hält an. Der menschliche Faktor: eher klein. Oder?
„Während der Fahrt kann es sein, dass stundenlang nichts passiert – und dann muss man plötzlich blitzschnell reagieren“, wird Thiel später sagen. Zum Beispiel dann, wenn jemand die Notbremse betätigt und er entscheiden muss, wo der Zug stehen bleibt (Regel: nicht im Tunnel, weil das Panik auslöst). Oder wenn eine Oberleitung reißt. Es braucht, sagt Thiel, tatsächlich so etwas wie ein Gefühl für diese 80 Tonnen schweren ICE-Triebköpfe. „Jeder Zug bremst anders“, sagt Thiel. Bei Feuchtigkeit langsamer, bei Trockenheit schneller. Automatische Züge? „Da wird in naher Zukunft nichts passieren.“ Da ist er sicher.
Die Bahn will Fahrgastzahlen verdoppeln
Es wird also mehr Menschen brauchen – nur ist das, folgt man Dirk Flege, Geschäftsführer der Allianz pro Schiene, nicht nur Zeichen eines großen Versagens, sondern vor allem eines großen Erfolgs. Seit Jahren fahren immer mehr Menschen Bahn, rechnet Flege vor. Und tatsächlich ist die Zahl der Lokführer in den vergangenen Jahren gestiegen: von 27 866 im Jahr 2015 auf rund 29 300 zwei Jahre später.
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„Der Markt wächst schneller, als die Lokführer an Land gezogen werden können“: Dirk Flege, Vorsitzender der Allianz pro Schiene.
© Quelle: dpadpa
So ist der Mangel an Lokführern am Ende nicht nur ein Problem für die Bahnen. Oder für die Pendler – sondern für das Gelingen eines großen gesellschaftlichen Projekts namens Verkehrswende.
Eine der Lösungen wäre jetzt, dass sich die deutschen Bahnunternehmen absprechen. Doch stattdessen schildert Flege, wie manche Firmen frisch ausgebildete Lokführer mit fünfstelligen Beträgen von der Konkurrenz abwerben. Was ganz sicher keine Lösung des Fachkräftemangels ist.
Stefan Thiel und sein ICE 685 immerhin, sie sind an diesem Tag pünktlich in Hannover, 20.20 Uhr. Er muss seinen Zug nun an einen anderen ankoppeln, zusammen fahren die beiden Teile weiter Richtung Süden, für Thiel ist hier Endstation, er fährt dann einen anderen ICE nach Bremen. Demnächst wird er wieder Richtung Kopenhagen fahren, über die Fähre, das ist seine Lieblingsstrecke. „Jedes Mal ein kleiner Urlaub“, sagt er.
Zumindest wenn man Stefan Thiel so zuhört, dann klingt es sehr erstaunlich, dass es in diesem Beruf irgendeinen Mangel geben kann.
Von Thorsten Fuchs/RND