Instrument ohne Wirkung? Was die Mehrwertsteuersenkung dem Handel gebracht hat
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Menschen gehen im Juni durch die Einkaufsmeile Hohe Straße in der Innenstadt.
© Quelle: Henning Kaiser/dpa
Es ist der größte Batzen im “großen Wumms” der großen Koalition: Am 3. Juni verkündeten Union und SPD überraschend, dass im Rahmen ihres Corona-Konjunkturpaketes auch die Mehrwertsteuer abgesenkt wird, und zwar befristet zwischen dem 1. Juli und dem Jahresende. Durch die Entlastung in Höhe von 20 Milliarden Euro sollen die Bürger zum Einkaufen animiert werden, um die durch die Pandemie arg gebeutelte Wirtschaft wieder anzukurbeln.
Ist das gut angelegtes Geld?
Von Anfang an war die Steuererleichterung umstritten. Von Geldverschwendung sprach die Opposition, von einem Bürokratiemonster und Strohfeuer. Viele Ökonomen lobten die Entlastung jedoch als klugen Weg aus der Krise. Jetzt, fast zwei Monate nach der Absenkung, ist die Zwischenbilanz so, wie die Diskussionslage vor der Einführung gewesen ist: durchwachsen.
Dabei war die Idee naheliegend: Die Mehrwertsteuer wird auf alle Waren und Dienstleistungen erhoben und dem Endverbraucher in Rechnung gestellt. Durch die Reduzierung des regulären Satzes von 19 auf 16 Prozent und des für Waren des täglichen Bedarfs ermäßigten Satzes von 9 auf 5 Prozent wird alles billiger und die Leute konsumieren mehr – das zumindest war die Hoffnung der Politik. Doch es bleibt eine Theorie.
Denn tatsächlich sind die Unternehmen in ihrer Preisgestaltung völlig frei. Ob sie den sinkenden Steuersatz an die Kunden weitergeben oder stattdessen einfach den Preis des Produktes oder der Dienstleistung um den gleichen Prozentsatz anheben, ist ihnen überlassen. Wenn ein Händler mit dem Satz wirbt “Wir reichen die Steuerentlastung voll an Sie weiter”, dann verkündet er also keine Selbstverständlichkeit, sondern eine freiwillige Entscheidung. Die Unberechenbarkeit aber nimmt dem Instrument der Steuersenkung offenbar den “Wumms”, den Finanzminister Olaf Scholz (SPD) versprochen hat.
Ein großer Kaufrausch?
Nach einer am Montag veröffentlichten Umfrage des Instituts für Makroökonomik und Konjunkturforschung glaubt mehr als jeder Dritte nicht, dass die Senkung wirklich an Konsumenten weitergereicht wird. Eine klare Mehrheit (58,2 Prozent) geht davon aus, dass der Vorteil nur teilweise bei ihnen ankommt. Nur 6 Prozent glauben, dass die Senkung “ganz überwiegend” bei den Kunden ankommt. Das hat Folgen: Drei Viertel der Befragten wollten ihr Konsumverhalten im zweiten Halbjahr 2020 nicht verändern. Nur 14 Prozent wollen eigentlich für später geplante Ausgaben vorziehen. Und nur 3 Prozent wollen Ausgaben tätigen, die sie sonst nicht geplant hätten.
Ein wahrer Kaufrausch ist also wohl eher nicht zu erwarten. Oder doch? Die repräsentative Befragung des zur gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung gehörenden Instituts lief in der zweiten Junihälfte – also kurz vor der Absenkung. Wie sieht es denn nun wirklich aus? Ein Blick in ganz unterschiedliche Branchen.
Das Handwerk - ein Mehr an Aufwand und Kosten
Wenn Mirko Kosalleck das Wort Mehrwertsteuersenkung hört, verdreht er die Augen. “Komm, hör mir auf damit”, sagt der Essener. “Nichts als Ärger hab ich damit.”
Kosalleck ist leitender Mitarbeiter in einem großen Malerbetrieb im Ruhrgebiet. Er macht Kostenvoranschläge, bestimmt die Auftragsreihenfolge, stellt Rechnungen aus. Seit die große Koalition die Senkung der Mehrwertsteuer angekündigt hat, steht sein Telefon nicht mehr still. “Jeden Tag rufen mich Kunden an, die was an ihrer Rechnung drehen wollen”, sagt Kosalleck, der eigentlich anders heißt, seinen echten Namen aber nicht in der Zeitung lesen möchte.
Zwar ist nicht das Rechnungsdatum oder der Zahlungseingang entscheidend für die Höhe des fälligen Mehrwertsteuersatzes, sondern der Zeitpunkt, zu dem die Leistung erbracht wurde. Doch auch beim vermerkten Leistungsdatum gibt es nun Begehrlichkeiten. Viele von Kosallecks Kunden fragen nach, ob eine Leistung von Mai oder Juni nicht auch auf Juli datiert werden könnte – denn damit ließe sich der Steuersatz um 3 Prozentpunkte senken. Gleichzeitig erhöhen Bauherren den Druck, damit es noch in diesem Jahr mit der Fertigstellung des Bauvorhabens klappt oder zunächst Teilabschnitte des Vorhabens abgeschlossen und abgerechnet werden.
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Die Auftragsbücher im Baugewerbe waren bereits vor der Mehrwertsteuersenkung voll.
© Quelle: imago images/teamwork
Kosalleck, dessen Auftragsbücher schon vor der Steuersenkung voll waren, profitiert davon nach eigener Aussage gar nicht: “Das Einzige, was uns die Mehrwertsteuersenkung gebracht hat, ist mehr Arbeit.”
Beim Zentralverband des Deutschen Handwerks (ZDH) teilt man weite Teile dieser Kritik. Für die Wirtschaft sei es enorm aufwendig, die Steuersenkung umzusetzen, teilt der Spitzenverband auf Anfrage mit. “Bei einem nur sehr kurzen Vorlauf mussten für einen Zeitraum von nur sechs Monaten sämtliche Kassen und Buchhaltungsprogramme umprogrammiert werden”, so ein ZDH-Sprecher. Besonders im Bereich des Bauhandwerks, in dem die Vertragsabwicklung typischerweise einen längeren Zeitraum in Anspruch nehme, müssten bei der Frage nach dem richtigen Steuersatz zum Teil komplizierte Abgrenzungsfragen geklärt werden. “Das ist nicht nur aufwendig, sondern auch mit teils erheblichen Beratungskosten verbunden”, klagt der Handwerksverband.
Dem Mehr an Aufwand stünde aber kein Mehr an Ertrag gegenüber. “Das Handwerk hätte sich daher ergänzend strukturelle Verbesserungen des Steuerrechts gewünscht, um so nachhaltig den Wirtschaftsstandort Deutschland zu stärken und dauerhaft für mehr Wirtschaftsleistung und sichere Arbeitsplätze zu sorgen”, heißt es beim ZDH.
Die Gastronomie – Lage weiter kritisch
Dass ein Ende der Krise noch nicht absehbar ist, erlebt die Gastronomie besonders hart. Denn obwohl der Steuersatz für den Verzehr von Speisen in Lokalen zum 1. Juli nicht nur von 19 auf 16 Prozent, sondern sogar auf 5 Prozent gesunken ist, erholt sich die Branche nur sehr langsam. Zwar sind die Umsätze nach dem Ende des Lockdowns wieder kräftig gestiegen. Doch trotz der Mehrwertsteuersenkung laufe das Geschäft sehr begrenzt, berichtet der Deutsche Hotel- und Gaststättenverband (Dehoga). Abstandsgebote und Kapazitätsbeschränkungen verringern die Gästezahl – und viele Menschen scheuen sich, mit einer großen Zahl Fremder in einem geschlossenen Raum zu sitzen.
Autos und Einrichtung - zusätzlicher Anreiz, mehr nicht
Bei großen Anschaffungen können 3 Prozent Ersparnis schnell mal 1000 Euro ausmachen. Das neue Auto, die neue Einrichtung – hier schlägt sich die niedrigere Mehrwertsteuer spürbar nieder. Und tatsächlich sind beide Branchen wieder auf dem Weg nach oben. Von einer “für Sommermonate untypisch hohen Nachfrage” berichtet die Möbelindustrie, und der deutsche Autoverkauf kam im Juli schon wieder nah an den Vorjahreswert heran.
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Kunden von Ikea stehen am Morgen vor dem Eingang der Dresdner Filiale in einer Warteschlange bis in ein Parkhaus hinein. In Sachsen durften die Märkte im Mai wieder öffnen.
© Quelle: Robert Michael/dpa-Zentralbild/d
Die niedrigere Mehrwertsteuer sehen allerdings beide Branchen höchstens als Anstoß für ohnehin geplante Käufe. So machte die Möbelindustrie schon im Juni – also vor der Senkung – wieder gute Geschäfte. Und im Rabattkampf der Autobranche sind 3 Prozent kaum noch der Rede wert. Wer einen Neuwagen direkt vom Händlerparkplatz mitnimmt, bekommt seit Jahren 15 und mehr Prozent Nachlass. So dient die Mehrwertsteuersenkung vielen Marken vor allem als Marketinglabel für Preisnachlässe in ganz anderen Dimensionen: “Renault senkt die Mehrwertsteuer auf 0%”, werben etwa die Franzosen – bezogen allerdings nur auf bestimmte Modelle. Auch Volkswagen verspricht: “16% MwSt geschenkt!” So zieht es sich durch die Branche: Entweder das Thema wird ignoriert, oder man nimmt es als Anlass für einen viel größeren Schnitt.
Die Kampagnen zeigen offenbar Wirkung. Im Juli jedenfalls kam der Automarkt nicht nur aus der Krise, die Privatkunden kauften sogar 7 Prozent mehr Autos als ein Jahr zuvor – lange vor Corona und Lockdown.
Dass die Zahl der Neuzulassungen insgesamt trotzdem um 5 Prozent auf 315.000 schrumpfte, lag an den zögernden Gewerbekunden, die mehr als die Hälfte der Neuwagen in Deutschland kaufen. Ihnen bringe auch die Steuersenkung nichts, heißt es beim Importeursverband VDIK, denn bei Käufen durch Unternehmen spielt Mehrwertsteuer keine Rolle.
”Deshalb waren wir sehr skeptisch”, sagt ein VDIK-Sprecher. Die Branche sieht den Steuerabschlag nur als “zusätzlichen Anreiz, die Hauptmotivation ist es nicht”, heißt es beim Zentralverband Deutsches Kraftfahrzeuggewerbe. Generell hätten sich Hersteller und Händler Kaufprämien auch für Autos mit Verbrennungsmotor gewünscht. “Aber man nimmt ja, was man kriegen kann”, sagt ein Brancheninsider.
Der Einzelhandel - “desolate Situation”
Wochenlange Geschäftsschließungen haben den Einzelhandel schwer getroffen. Der stationäre Handel steht durch die Konkurrenz aus dem Internet ohnehin unter Druck. Da kam die Senkung der Mehrwertsteuer zum 1. Juli gerade recht – eigentlich.
Knapp zwei Monate später zeigt sich: Der Impuls ist größtenteils verpufft. Von einer “sehr desolaten Situation” spricht Stefan Genth, Hauptgeschäftsführer des Handelsverbands Deutschland (HDE). In den Innenstädten seien zwar wieder mehr Menschen unterwegs. Aber im Vergleich zum Vorjahr müssten die Geschäfte einen Umsatzrückgang von bis zu 30 Prozent verkraften.
Allein der – im internationalen Vergleich sanfte – Lockdown in März und April habe 15 Milliarden Euro Umsatz gekostet, hat der HDE berechnet. Geld, das fehlt und nicht nachträglich ausgegeben wird. Fürs ganze Jahr rechnet der Verband mit Verlusten von 40 Milliarden Euro. Die Kauflust der Deutschen ist nach wie vor gering. Die Kunden tätigten aktuell vor allem Bedarfskäufe, sagt Genth.
Eine schnelle wirtschaftliche Belebung, wie von der Politik erhofft? In den Einkaufsstraßen ist davon wenig zu spüren, beobachtet Genth: “Beim Konsum gibt es nur eine langsame Erholung.” Dabei wollte die Bundesregierung genau das erreichen: dass die Menschen wieder mehr Geld ausgeben, am besten in den Innenstädten. Der Handelsverband Deutschland hält die Senkung der Mehrwertsteuer auch prinzipiell für richtig – im Zusammenspiel mit anderen Maßnahmen wie einem 500-Millionen-Euro-Fonds für die Innenstädte.
Die temporäre Mehrwertsteuersenkung allein könne den Einzelhandel in den Innenstädten jedenfalls nicht stützen. Zumindest dann nicht, wenn sie bereits Ende des Jahres wieder ausläuft. Der Einzelhandel schätzt den Einfluss der Steuersenkung ohnehin nur auf etwa 0,5 Prozent des Jahresumsatzes. “Wenn sie wirken soll, brauchen wir sie länger”, sagt Genth. Am besten auch noch 2021.