Die Preise für Erdgas explodieren – und Russland gibt sich knauserig
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Gazprom hat für die Pipeline Nord Stream 2 alles vorbereitet: Am Startpunkt der Rohrleitung wurde kürzlich eine Aufbereitungsanlage in Betrieb genommen.
© Quelle: imago images/ITAR-TASS
Frankfurt. Die Internationale Energieagentur (IEA) ist bekannt für wohl erwogene Argumente und zurückhaltende Formulierungen. Umso bemerkenswerter ist eine aktuelle Mitteilung, die sich mit den Rekordpreisen für Erdgas befasst. Zwar erfülle Russland derzeit seine langfristigen Lieferverträge gegenüber europäischen Staaten. Aber: „Die IEA glaubt, dass Russland mehr machen könnte, um die Verfügbarkeit von Gas zu erhöhen.“
Das bringt einen neuen Akzent in die Debatte über die Preisexplosion. Naheliegend ist, dass die höchst umstrittene und fast fertiggestellte Pipeline Nord Stream 2 hierbei eine wichtige Rolle spielt. Annalena Baerbock, Kanzlerkandidatin der Grünen, spricht sogar von Erpressung.
Die IEA erwähnt die Rohrleitung in ihrer Mitteilung mit keinem einzigen Wort. Macht aber darauf aufmerksam, dass Russland aktuell dafür sorgen könne, dass die Gasspeicher in Deutschland und anderen Ländern „auf ein angemessenes Niveau“ aufgefüllt werden. Das sei eine Chance für Russland, seine Zuverlässigkeit als Lieferant für den europäischen Markt zu unterstreichen.
Das lässt sich durchaus als Aufforderung der IEA lesen. Die Reservoire hierzulande weisen nach Angaben der Initiative Erdgasspeicher (Ines) aktuell einen „historischen Tiefstand“ aus. Sie sind derzeit nur zu 64 Prozent gefüllt. Doch es bestehe, so Ines, noch bis Anfang November die Chance, das übliche Füllstandniveau von über 90 Prozent zu erreichen. Die Brennstoffvorräte werden bei längeren Kälteperioden – die oft im Januar und Februar auftreten – dringend benötigt, um Verbrauchsspitzen „lokal und zeitnah“ abzudecken, erläutert der Erdgasspeicher-Verband.
Für Baerbock ist unterdessen klar, was hinter der Zurückhaltung Russlands bei den Gaslieferungen steckt: „Das Putin-Regime will politischen Druck aufbauen, um die ausstehenden Genehmigungen für Nord Stream 2 schneller zu bekommen und so die Leitung in Betrieb zu nehmen“, sagte sie dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). Baerbock betont: „Die Leidtragenden sind die Kunden in Deutschland, deren Gaspreise steigen werden oder die im Extremfall sogar im Kalten sitzen müssen.“
An den Energiebörsen wird Erdgas derzeit so hoch wie niemals zuvor gehandelt. Der aktuelle Preis bewegt sich bei 60 bis 65 Euro pro Megawattstunde. Das ist gut dreimal so viel, wie in den vergangenen Jahren im Schnitt üblich war. Und viele Rohstoffexperten gehen davon aus, dass diese Entwicklung bis tief ins nächste Jahr hineinreichen könnte. Das bedeutet auch, dass sich Verbraucher auf deutlich steigende Preise fürs Heizen einstellen müssen.
IEA-Direktor Fatih Birol macht darauf aufmerksam, dass die russische Knauserigkeit keineswegs der einzige Grund für die aktuell kritische Lage ist: „Die jüngsten Steigerungen bei den globalen Erdgaspreisen sind das Resultat multipler Faktoren“, erläutert Birol. Dazu zählt eine starke Erholung der Nachfrage. Auch die Witterung spiele eine Rolle, unter anderem mit einer kalten und langen Heizperiode in Europa im vergangenen Winter und einer geringeren Verfügbarkeit von Windstrom in den zurückliegenden Wochen.
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© Quelle: dpa
Die Lage in Europa ist zudem das Ergebnis einer ganz speziellen Dynamik auf dem Weltmarkt. Auch Ostasien und Nordamerika hatten es im ersten Quartal des Jahres mit heftigen Kältewellen zu tun. Gefolgt von Hitzewellen in vielen Teilen der Erde. Das hat die Nachfrage laut IEA nach oben getrieben, insbesondere in China, aber auch in Japan und Korea. Zugleich gab es größere technische und logistische Probleme beim verflüssigten Gas (LNG), das mit Schiffen transportiert wird – vor allem Japan ist davon abhängig. Mit der Folge, dass seit Monaten kaum noch LNG nach Europa geliefert wird, es lässt sich in Asien schlicht teurer verkaufen.
Birol und seine Leute gehen davon aus, dass der europäische Gasmarkt mit „weiteren Stresstests“ konfrontiert werden könnte. Falls es zu unerwarteten Lieferausfällen und/oder heftigen Kältewellen kommen werde – insbesondere im späten Winter, also im Februar. Die Füllstände der Gasspeicher seien derzeit in ganz Europa unterhalb des Fünf-Jahres-Durchschnitts.
Mehr Erneuerbare für mehr Unabhängigkeit
Die Niederlande und Norwegen sind zwar wichtige Erdgaslieferanten. Mit dem leichtflüchtigen Brennstoff aus Russland wurde aber 2019 gut die Hälfte des hiesigen Bedarfs gedeckt. Zugleich ist die Bundesrepublik für den russischen Staatsmonopolisten Gazprom der wichtigste Abnehmer in Europa.
Mit Nord Stream 2 will Russland die Belieferung von Westeuropa noch einmal deutlich steigern. Kritiker des Projekts befürchten, dass die neue Rohrleitung durch die Ostsee auch als geostrategische Waffe eingesetzt werden könnte, insbesondere gegen die Ukraine und Polen, die bislang hohe Einnahmen mit Gebühren für die Durchleitung von Erdgas mittels Pipelines an Land machen.
Für Baerbock besteht derweil kein Zweifel: Das Spiel, das Russlands Präsident Wladimir Putin betreibe, zeige einmal mehr, „welchen Bärendienst SPD und Union mit ihrem Einsatz für Nord Stream 2 Deutschland erwiesen haben“. Die Bundesregierung habe die Pipeline vorangetrieben, allen Bedenken, Warnungen und Befürchtungen zum Trotz. Das räche sich. „Denn Deutschland ist nun in der Erpressungssituation, vor der ausgiebig gewarnt wurde.“
Die Grünen-Politikerin fordert von Union und SPD ein klares Signal Richtung Moskau: „Das Signal muss sein, dass Russland zu seinen Zusagen stehen muss und über die bestehenden Pipelines wie in der Vergangenheit auch genügend Gas liefert.“
Sie fügt hinzu: „Um uns unabhängiger von autokratischen Regimen zu machen, wäre eine meiner Prioritäten in der kommenden Bundesregierung, sich für den raschen Erneuerbaren-Ausbau bei uns in Deutschland einzusetzen.“ Gleichzeitig brauche es Vorgaben für Minimalfüllstande der Speicher beziehungsweise eine nationale Gasreserve – analog zur Ölreserve, „damit niemand im Winter im Kalten sitzt“.