Der laute Hilfeschrei der Modebranche
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Die Textilbranche hat es wegen der Corona-Pandemie heftig erwischt. Die Umsätze sind um 85 Prozent und mehr eingebrochen.
© Quelle: Petros Karadjias/AP/dpa
Hannover. Der Appell könnte kaum dringlicher sein: “Wir kämpfen um unsere Existenz, viele stehen am Abgrund. Wir fordern die Bundesregierung auf, endlich unternehmerischen Schwung in ihre Planungen zu bringen”, sagte Ingeborg Neumann, Präsidentin des Gesamtverbandes der deutschen Textil- und Modeindustrie, dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). Sie fügt hinzu: “Wir werden die Krise nicht überstehen, wenn wir uns im Abwarten üben.”
Am Mittwoch will Kanzlerin Angela Merkel (CDU) mit den Ministerpräsidenten der Länder über weitere Lockerungen in der Corona-Krise beraten. Die Textilbranche hat es heftig erwischt. Wegen der weltweit zusammengebrochenen Märkte und des langen Shutdowns seien die Umsätze vor allem bei den Bekleidungsunternehmen um 85 Prozent und mehr eingebrochen, teilt Textil+Mode mit.
Bekannte Namen auf der Liste
Es hat bereits einige bekannte hiesige Namen erwischt. Esprit, Hallhuber, Appelrath Cüpper, Karstadt Kaufhof und zuletzt Sinn (früher Sinn Leffers). Sie alle haben das sogenannte Schutzschirmverfahren bei den zuständigen Amtsgerichten beantragt – das ist die mildeste Form des Insolvenzverfahrens. Das ermöglicht vor allem, sich vor Forderungen von Gläubigern zu schützen. So können sich Händler erst einmal von den Mieten für die Filialen entlasten.
Auch bei den Herstellern von Bekleidung und Schuhen sieht es sehr finster aus: Einer aktuellen Umfrage des hiesigen Modeverbandes German Fashion zufolge haben 83 Prozent der befragten Mitglieder Kurzarbeit angemeldet. Das reduziert die Personalkosten deutlich. Dennoch haben drei Viertel der Unternehmen angegeben, nur noch maximal drei Monate durchhalten zu können.
Knapp 20 Prozent befürchten, dass schon in den nächsten vier Wochen der Faden reißen könnte. Neben schwindender Liquidität, gestörter Lieferketten und Produktionsausfällen machen vor allem Stornierungen von Bestellungen durch Händler im In- und Ausland zu schaffen. Doch auch die Händler hatten zuletzt keine Wahl. Durch die staatlich verfügten Schließungen ist der Verkauf der Frühjahrskollektionen vielfach fast vollständig ausgefallen. Das kann nicht mehr nachgeholt werden.
Eine tiefe Strukturkrise
Auch staatliche Hilfsprogramme können nur bedingt helfen. So hoffte Sinn-Chef Friedrich-Wilhelm Göbel auf einen günstigen Kredit aus dem Corona-Sonderprogramm der staatlichen Förderbank KfW. Bei diesen Darlehen müssen aber die Hausbanken 20 Prozent der Kreditrisiken schultern. Und dazu seien drei Geldhäuser nicht bereit gewesen, sagte Göbel dem Fachblatt Textilwirtschaft. Obwohl Sinn mit 25 Filialen, 1400 Mitarbeitern und rund 200 Millionen Euro Jahresumsatz vor Corona profitabel gewesen sei.
Hinter dem Nein der Banker steckt, was “Fortführungsprognose” genannt wird: Die Institute trauen den Gebeutelten nicht mehr zu, in den nächsten Monaten wieder Boden unter die Füße zu bekommen. Unter Branchenkennern heißt es, dass in nächster Zeit noch eine ganze Reihe von vornehmlich mittelständischen Firmen am Gang zum Amtsgericht nicht vorbeikommen wird.
Dahinter steckt auch eine tiefe Strukturkrise, die schon im vorigen Jahr zu spüren war. Deutlichstes Zeichen dafür: Die Insolvenz von Gerry Weber, einst Aushängeschild der hiesigen Textil- und Modebranche mit ihren 1400 Unternehmen und 135.000 Beschäftigten. Das Angebot ist riesig. Große internationale Anbieter wie H&M, Primark oder Zara vergrößern ihre Marktanteile, weil deren Hosen und Shirts preiswert sind und weil die Konzerne schneller auf Trends reagieren können – nicht nur für junge Leute. Zudem verlagert sich immer mehr Umsatz ins Internet. Das wird sich nach Ansicht vieler Experten durch Corona noch verstärken.
“Insolvenzflut” verhindern
Gleichwohl: Um eine “Insolvenzflut” zu verhindern, steht die “diskriminierungsfreie Wiedereröffnung sämtlicher Textil- und Modegeschäfte” ganz oben auf der Wunschliste des Textil- und Mode-Gesamtverbandes für die Bund-Länder-Beratungen am 6. Mai.
Die Firmen seien gut vorbereitet, könnten auf Erfahrungen von Super- und Baumärkten sowie von Drogerien zurückgreifen. Die strikte Einhaltung von Hygienemaßnahmen wird dabei in einem Papier der Lobby für absehbare Zeit als unerlässlich dargestellt, da frühestens 2021 die Gefahr eines Corona-Rückfalls gebannt sein werde. Doch die komplette Wiedereröffnung allein wird nicht reichen.
Das am Montag veröffentlichte Konsumbarometer des Handelsdachverbandes HDE für Mai ist auf einen historischen Tiefpunkt gefallen. Der private Konsum werde “noch sehr lange Zeit durch Zurückhaltung geprägt sein”, so der HDE. Da die meisten Verbraucher davon ausgingen, künftig weniger Einkommen zur Verfügung zu haben, seien sie bei Anschaffungen entsprechend zurückhaltender. Hinzu kommt, dass es nach Einschätzung von Marktforschern derzeit ganz einfach an Gelegenheiten fehlt, um sich in neuen Klamotten zu zeigen: Hochzeiten, Partys, Festivals, Opernaufführungen oder Urlaube sind abgeblasen.
KfW-Kreditprogramme reichen nicht
Deshalb ist für Neumann und ihre Mitstreiter/innen im Gesamtverband klar: Die KfW-Kreditprogramme reichen nicht. Um die akute Not der mittelständischen Betriebe zu lindern, brauche es “eine schnelle und unbürokratische Direkthilfe in Form eines staatlichen nicht zurückzahlbaren Vorschusses”.
Zudem sei ein Konjunkturprogramm nötig, um den privaten Konsum und die Investitionen der Unternehmen anzukurbeln. Die zentralen Punkte: Eine zeitlich befristete Reduzierung der Umsatzsteuer für Textil- und Lederwaren, nebst weiterer Steuerentlastungen für Firmen; befristet gültige Konsumgutscheine besonders für Haushalte mit niedrigen Einkommen, Abschaffung des Solidaritätszuschlages. Finanzminister Olaf Scholz (SPD) hat gerade angekündigt, dass die Bundesregierung frühestens Ende Mai über ein Konjunkturprogramm diskutieren wird.
RND