Cum-Ex: Der größte Finanzskandal in der Geschichte
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„Der größte Finanzskandal in der Geschichte des Landes“: In den Bürotürmen in Frankfurt am Main und anderswo organisierten Banker, Juristen und Investoren die sogenannten Cum-Ex-Geschäfte.
© Quelle: dpa
Bonn. Es geht um 447 Millionen Euro. Nur 447 Millionen, könnte man auch sagen. Denn kämen im Bonner Landgericht alle Geschäfte zur Verhandlung, die über Jahre nach dem gleichen Muster abgewickelt wurden, dann ginge es wohl eher um das Hundertfache – einen zweistelligen Milliardenbetrag, der über Jahre an den Finanzämtern vorbeifloss. So genau weiß das keiner, und viele wollen es auch nicht wissen, denn kaum jemand sieht gut aus in diesem Fall, der unter dem kryptischen Namen Cum-Ex berühmt geworden ist.
Da sind wohlhabende Anleger, routiniert im Umgang mit Großbeträgen, die dennoch behaupten, sie hätten vom Geheimnis ihrer Renditen nichts gewusst. Da sind Banken und Wertpapierhändler, ohne deren reibungslose Dienste das System nie funktioniert hätte. Erstklassige Anwaltsfirmen, die so lange in Gesetzestexten bohrten, bis da Lücken waren. Und schließlich Politiker, die jahrelang nichts merkten, dann noch einmal Jahre für ein neues Gesetz brauchten und schließlich die Aufarbeitung lustlos zu den Akten legten. Von „Kollektivversagen“ in der Aufarbeitung sprach danach der Mannheimer Steuerprofessor Christoph Spengel.
Die Geldbranche fürchtet die Anklagebank
Jetzt hat Roland Zickler den Job der Aufarbeitung übernommen. Von diesem Mittwoch an verhandelt der Vorsitzende Richter am Landgericht Bonn das erste deutsche Strafverfahren in Sachen Cum-Ex. Seine zwölfte große Strafkammer wurde eigens für dieses Verfahren eingerichtet, acht Kamerateams werden erwartet, rund 60 Anwälte haben sich als Beobachter angesagt. Denn Cum-Ex war ein Massenphänomen, gegen schätzungsweise 200 Personen wird noch ermittelt, in Frankfurt laufen die Vorbereitungen für ein weiteres Verfahren. Viele in der Geldbranche fürchten die Anklagebank.
In Bonn sitzen erst einmal Nicholas D. und Martin S., angeklagt wegen schweren Steuerbetrugs von der Staatsanwaltschaft Köln. In rund 30 Vernehmungen hat S. der Oberstaatsanwältin Anne Brorhilker seine Geschichte erzählt, und die könnte zu weiteren Verfahren führen: S. habe bestätigt, dass die „Aktienkreisgeschäfte“ geplant und abgesprochen worden seien, lautet das Fazit der Strafverfolgerin.
Die beiden Briten waren in ihren Zwanzigern, junge Aktienhändler bei der Hypo-Vereinsbank, als sie von einer Art Goldrezept erfuhren: In Deutschland konnte man sich Steuern erstatten lassen, ohne sie vorher bezahlt zu haben. Das nutzten sie zunächst als Angestellte, wenig später selbstständig in einer eigenen Anlagefirma. Lange hielten alle dicht.
Aus Dividendenstripping wurde Cum-Ex
Anfangs sprach man in der Szene von Dividendenstripping, später bürgerte sich Cum-Ex ein, und damit sind die drei entscheidenden Begriffe versammelt: Es werden Aktien und Aktienoptionen rund um den Dividendentermin gehandelt – mal mit (cum) und mal ohne (ex) den Anspruch auf Dividendenzahlung.
Nötig waren dafür fein abgestimmte Besitzerwechsel von echten Aktien, Optionen darauf und Dividendenrechten – oft grenzüberschreitend. „Das sind Strukturen wie der Schaltplan eines Atomkraftwerks“, sagt Spengel. Die Kursentwicklung der Wertpapiere, sonst Treiber des Börsengeschehens, spielte dabei keine Rolle.
Der Gewinn kam vom Fiskus, und das ging in groben Zügen so: Auf Dividenden wird Kapitalertragssteuer fällig, die aber zum Teil mit der Einkommens- oder bei Firmen der Körperschaftssteuer verrechnet werden kann. Bei grenzüberschreitenden Geschäften führen Doppelbesteuerungsabkommen zum gleichen Effekt.
Die komplizierten Aktiendeals hatten das Ziel, bei nur einem der Beteiligten die Steuer abzuführen, aber mehreren die Bescheinigung zu verschaffen, mit der sie Erstattungen kassieren konnten.
Lange lief es reibungslos
Was eigentlich auffallen müsste, ging lange reibungslos, denn im deutschen System waren die Aufgaben verteilt: Das Unternehmen zahlte die Dividende an seinen Aktionär und führte dessen Steuer direkt ab. Die Bescheinigung über diese Steuerzahlung schickte ihm dann allerdings die Bank, die sein Wertpapierdepot führte. Und weil die Besitzverhältnisse der Aktie durch die Geschäfte rund um den Tag der Dividendenzahlung ziemlich unübersichtlich waren, schickten die Banken an verschiedene Leute Bescheinigungen, die sich jeweils Steuern erstatten ließen – für nur ein Basisgeschäft.
Erst 2012 wurde das Verfahren geändert und die Gesetzeslücke geschlossen – die eigentlich immer nur eine Verfahrenslücke war. „Diese Gesetzeslücke ist völliger Humbug“, sagt Steuerprofessor Spengel. Nie sei es erlaubt gewesen, sich Steuern erstatten zu lassen, die man gar nicht gezahlt hat. Gerhard Schick, früher Experte der Grünen für den Finanzmarkt und heute Vorstand des Vereins Finanzwende, hat ein Beispiel aus dem Alltag. Das sei wie mit einer falschen Spesenabrechnung, sagt Schick: „Ist der Arbeitgeber so schlecht organisiert, dass er es nicht merkt, wenn ein Mitarbeiter ein privates Fahrticket einreicht? Dann ist die Abrechnung zwar möglich, aber Betrug bleibt es trotzdem.“
Das ist nicht irgendein Steuertrick.
Gerhard Schick,
Vorstand von Finanzwende
Die deutlich kompliziertere Cum-Ex-Konstruktion sei zufällig entstanden, sagt Spengel, der sich tief in die Materie eingearbeitet hat. Im Aktienhandel hätten sich versehentlich Geschäfte und Fristen überschnitten – und die Händler stellten fest, dass Banken mehrere Steuerbescheinigungen schickten. Danach wurde am Verfahren gefeilt, bis es serientauglich war.
Die Vermarktung lief im großen Stil. Fonds wurden aufgelegt, die ihre Renditen mit den unberechtigten Steuergutschriften aufpeppten. Viele Banken brachten die Produkte unters Volk und beharrten darauf, dass sie rechtmäßig seien. Börsendienstleister sorgten für die technische Abwicklung. „Solche Geschäfte brauchen mehrere Beteiligte, zum Beispiel Juristen, die es legal darstellen. Sie haben alle gut dichtgehalten“, sagt Schick.
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„Ich bin vorsätzlich getäuscht worden“, sagt AWD-Gründer Carsten Maschmeyer.
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Doch das half nicht mehr, als die Geschäfte nach 2012 unmöglich wurden. Als die bisweilen prominente Kundschaft mit ihren Geldanlagen Verluste einfuhr und Cum-Ex auch öffentlich in Verruf geriet, kam es einigen auf den Imageschaden auch nicht mehr an. AWD-Gründer Carsten Maschmeyer riskierte lieber seinen Ruf als „Finanzoptimierer“, statt öffentlich als privater Steueroptimierer dazustehen: „Ich bin vorsätzlich getäuscht worden“, sagte er 2016 und zog öffentlich gegen das Schweizer Bankhaus Sarasin zu Felde, das ihm, Familienmitgliedern und Freunden Cum-Ex-Fonds im insgesamt zweistelligen Millionenwert verkauft hatte. Von Cum-Ex habe er nichts gewusst, sagte Maschmeyer später.
Drogerieunternehmer Erwin Müller ging gegen Sarasin vor Gericht und legte damit die Saat für das Bonner Verfahren. Denn Müllers Anwalt Eckart Seith begann zu recherchieren, stieß auf interne Sarasin-Unterlagen und brachte zwei frühere Bankmitarbeiter dazu, auszupacken. Nicht zuletzt mit seinem Material unterfüttert die Kölner Staatsanwaltschaft ihre Anklage – während Seith in der Schweiz nur knapp einer Verurteilung wegen Geheimnisverrats entging.
Schlacht der Anwaltselite
In Bonn sind nur die beiden britischen Aktienhändler angeklagt, doch auch für ihre Partner in der Branche kann es noch eng werden. Gegen rund 200 Personen wird in verschiedenen Verfahren ermittelt, bei der Deutschen Bank fuhr die Polizei schon mit Mannschaftswagen vor, um unter anderem Cum-Ex-Material einzusammeln, erst vor wenigen Tagen gab es eine Razzia bei Clearstream, einer Tochter der Deutschen Börse.
Nicholas D. und Martin S., heute 38 und 41 Jahre alt, sollen im Prozess das Netz offenlegen. Sie haben angeblich umfangreich ausgesagt und wollen das offenbar im Prozess fortsetzen. Auf ihre Aussagen hin hat das Landgericht bereits fünf Banken ins Verfahren einbezogen. Dazu zählen der US-Finanzdienstleister BNY Mellon, die französische Großbank Société Générale, die Fondsgesellschaft Hansa Invest und eine Holdinggesellschaft der Hamburger Privatbank M.M. Warburg. Sie sind keine Angeklagten, könnten aber zu Schadensersatz herangezogen werden. Allein M.M. Warburg soll laut Anklage einen Steuerschaden von rund 166 Millionen Euro verursacht haben. Die Bank bestreitet die Vorwürfe.
Auch listet die Staatsanwaltschaft weitere Finanzinstitute als Schadensverursacher auf: Bei der BHF Bank stehen laut Anklage knapp 140 Millionen zu Buche, die französische BNP Paribas soll für gut 86 Millionen verantwortlich zeichnen und die Deutsche Apotheker- und Ärztebank mit knapp 49 Millionen Euro dabei sein.
Juristen im Visier der Staatsanwälte
Die beiden einstigen Aktienhändler hoffen bei umfangreicher Aussage auf Strafmilderung, denn auf schwere Steuerhinterziehung stehen bis zu zehn Jahre Haft. Viele andere verlassen sich auf die erste Garde der deutschen Wirtschaftsstrafanwälte. Und deren Linie ist absehbar: Ihre Klienten hörten auf das Urteil kundiger Berater, die Cum-Ex-Geschäfte für legal erklärten.
Bedarf für diesen Rat habe es spätestens 2011 gegeben, sagt Spengel. Damals hätten sich die ersten Sachbearbeiter in den Finanzbehörden quergestellt und Zahlungen verweigert. Also wurden die Experten in Marsch gesetzt, um die zweifelhaften Geschäfte zu rechtfertigen. Die weltweit aktive Wirtschaftskanzlei Freshfields war dabei, Professoren wurden für Stellungnahmen angeheuert, erinnert sich Spengel, der beim ersten Blick auf Cum-Ex-Geschäfte dachte: „Was für ein Blödsinn.“
Die Ausmaße des Skandals ahnten die Parlamentarier nicht, als der Bundestag 2011 einen Gesetzentwurf beriet, der das Verfahren bei der Steuererstattung änderte: Seitdem gilt, dass nur noch eine Steuerzahlung bescheinigen darf, wer die Steuer für den Dividendenempfänger auch abgeführt hat – in der Regel also die depotführende Bank. Die Zweigleisigkeit, die dem Betrug die Tür öffnete, wurde so abgeschafft. Schick arbeitete sich in das Gesetz ein, grub tiefer und stellte fest: „Das ist nicht irgendein Steuertrick, sondern der größte Finanzskandal in der Geschichte dieses Landes.“