Agrarministertreffen: Wie schlimm wird es mit dem Hunger – und für wen?
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Die UN warnen vor weiterer Verschlechterung der Hungerkrise unter anderem im Jemen.
© Quelle: -/XinHua/dpa
„Brot, Freiheit und Würde“, schallte es 2010 und 2011 durch die Straßen des mittleren Ostens – und womöglich sind die Schlachtrufe des Arabischen Frühlings bald wieder zu hören: Der Krieg in der Ukraine würfelt die globale Lebensmittelversorgung durcheinander, vor allem Weizenprodukte und damit Brot könnten in ärmeren Ländern knapp werden. Ein Überblick über den „perfekten Sturm“ auf den Agrarmärkten.
Werden Nahrungsmittel knapp?
Die Welternährungsorganisation FAO rechnet derzeit damit, dass die Weizenernte in der Ukraine 2022 um 20 Prozent sinkt – global dürfte demnach die Produktionsmenge aber in etwa konstant bleiben. In der Saison 2021/2022 würden weltweit dann 776,5 Millionen Tonnen Weizen produziert und 765 Millionen Tonnen verbraucht. Die voraussichtlichen globalen Lagerbestände beziffert die FAO außerdem mit 304 Millionen Tonnen. Das Verhältnis von Angebot und Nachfrage ist der FAO zufolge zuletzt in etwa konstant geblieben – und wesentlich besser als in früheren Lebensmittelkrisen, etwa bei der Finanzkrise 2008 und vor dem Arabischen Frühling 2011.
Wie haben sich die Preise entwickelt?
Die Preise für Weizen und andere Grundnahrungsmittel sind hingegen auf einem Höhenflug: Die Preisindizes für Weizen sind im April im Vergleich zum Vorjahresmonat um 57,5 Prozent gestiegen – und liegen laut der FAO nun etwa auf dem Niveau von 2008 und 2011. Bei Futures, also für die Zukunft vereinbarten Weizengeschäften, sieht es kaum besser aus. „Die Märkte erwarten eindeutig, dass die angespannte Situation anhält“, heißt es denn auch im jüngsten Bericht des globalen Agrarmarktinformationssystems AMIS.
Warum steigen die Preise?
Im Grunde ist der Weltmarkt für Agrarprodukte komplett aus dem Tritt geraten: Die Verknappung der ukrainischen Weizenlieferungen fällt mit oft dürrebedingt zurückhaltenden Ernteprognosen in vielen wichtigen Anbauländern zusammen. Rekorderträge erwartet nur Russland. Doch Kremlherrscher Wladimir Putin kokettiert damit, nur Partner beliefern zu wollen, was die Unsicherheiten verstärkt. Angesichts der Unwägbarkeiten haben zahlreiche Länder außerdem Exporte bei Agrargütern beschränkt, was laut FAO ebenfalls zu den Preisanstiegen beiträgt. Hinzu kommen gestiegene Kosten bei Landwirten, sowohl Treibstoffe als auch Dünger sind wegen des Kriegs deutlich teurer geworden.
Welche Rolle spielen Lebensmittelspekulanten?
Dem Recherchenetzwerk Lighthouse-Reports zufolge fließen derzeit sehr viele Anlagegelder in Agrarhandelfonds. Allein die zwei größten Fonds zogen demnach bis April 1,2 Milliarden Dollar an, 2021 waren es insgesamt 197 Millionen. Die FAO, zahlreiche Wissenschaftler sowie viele NGOs gehen davon aus, dass spekulative Lebensmittelgeschäfte Preisanstiege und -schwankungen zumindest verschärfen können. Statistiker konnten das sowohl für 2008 als auch für 2011 belegen.
Wen trifft das?
„Die Lebensmittelkrise wird für Menschen in anderen Ländern lebensgefährlich, hier hingegen sorgt sie nur für höhere Preise und neue Herausforderungen in der Sozialpolitik“, fasst Stig Tanzmann, Agrarmarktexperte bei Brot für die Welt, zusammen. Dabei war die Situation schon vor dem Ukraine-Krieg mehr als angespannt: Infolge der Pandemie stieg die Zahl der Hungernden 2021 laut UN weltweit auf 193 Millionen Menschen, nahezu eine Verdoppelung seit 2016. Besonders betroffen waren demnach afrikanische Staaten sowie ärmere asiatische Länder, etwa Afghanistan und Jemen.
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Häfen blockiert: der schwierige Weg des ukrainischen Getreides aus dem Land
Nordafrikanische und arabische Länder sind auf ukrainisches Getreide angewiesen – aber das steckt in den blockierten Schwarzmeerhäfen der Ukraine fest. Landwirte und Händler ringen um Alternativrouten. Die bringen aber weitere Probleme mit sich.
Was hilft dagegen?
Die sich abzeichnenden Hungersnöte sind bislang nicht die Folge von Engpässen, sondern hoher Preise. So ziemlich alle relevanten Akteurinnen und Akteure wollen deshalb zusätzliche Nothilfen, etwa durch eine deutliche Aufstockung des Etats des Welternährungsprogramms der UN. Auch die panisch errichteten Handelsbarrieren müssten schnell wieder abgebaut werden, meint die FAO. Zudem gibt es einige Vorschläge zur Vergrößerung des weltweiten Weizenangebots: Umweltverbände wollen den Anbau von Biokraftstoffen reduzieren, auch weniger Tierhaltung könnte Flächen für Weizen und Co. frei machen. Agrarverbände liebäugeln hingegen mit weniger Umweltschutzauflagen – und dem verstärkten Einsatz von Gentechnik.
Verhindert das künftige Krisen?
Regelrecht resigniert klangen zuletzt die Fachleute des unabhängigen internationalen Expertengremiums IPES, als sie von „einem weiteren perfekten Sturm“ an den Agrarmärkten sprachen, dem dritten in nur 15 Jahren. „Wir haben eine chronische Ernährungskrise, die sich immer mal wieder verschärft“, sagt auch Stanzmann. Er fordert deshalb nicht etwa Produktionssteigerungen, sondern andere Regeln für den Agrarmarkt: „Man müsste Kleinbauern stärken, regionale sowie lokale Märkte entwickeln und eine globale Agrarökologisierung vorantreiben.“
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