Sportlerinnen und Sportler berichten über Machtmissbrauch

„Angst, Scham, Gewissensbisse“: Warum Sexualisierung im Sport ein Thema bleibt

Insbesondere in den ästhetischen Sportarten wie Turnen haben Frauen mit Sexualisierung zu kämpfen. Ex-Turnerin Kim Bui (hier bei den European Championships 2022 in München) spricht nun offen darüber.

Insbesondere in den ästhetischen Sportarten wie Turnen haben Frauen mit Sexualisierung zu kämpfen. Ex-Turnerin Kim Bui (hier bei den European Championships 2022 in München) spricht nun offen darüber.

Als „schon sehr kleinlich“ bezeichnet die frühere Turnerin und dreimalige Olympiateilnehmerin Kim Bui im Interview mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) die Bekleidungsvorschriften in ihrer Sportart. Im gerade erst im Januar aktualisierten „Leitfaden Breitensport weiblich“ des Deutschen Turner-Bundes (DTB) sind diese Vorgaben im feinsten Behördendeutsch im Detail aufgeführt.

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Neueste Änderung: „Über oder unter dem Turnanzug kann eine enganliegende Hose jedweder Länge und Farbe (auch hautfarben) getragen werden.“ In Mannschaftswettbewerben müssen alle Mannschaftsmitglieder nun außerdem nur noch bei Einmarsch und Siegerehrung einheitlich angezogen sein. An den Geräten selbst ist es den Turnerinnen selbst überlassen, ob sie über dem Turnanzug, dessen Beinausschnitt „nicht über die Leistenbeuge (Maximum) hinausgehen“ darf und dessen „Linie circa zwei Zentimeter unterhalb des Gesäßes“ zu verlaufen hat, noch eine Hose tragen. Zuvor galt: „alle im gleichen Anzug und alle mit oder ohne Hose“.

Geldstrafe wegen zu langer Kleidung für Beachhandballerinnen

Immer wieder war in den vergangenen Jahren der Vorwurf der fehlenden Selbstbestimmung und der Sexualisierung nicht nur im Frauenturnen erhoben worden. Für Empörung sorgte 2021 der Fall des norwegischen Beachhandballteams. Die Spielerinnen waren bei der Europameisterschaft mit etwas längeren anstelle der vorgeschriebenen Bikinihöschen angetreten. Wegen „unangemessener Bekleidung“ sprach der Dachverband eine 1500-Euro-Geldstrafe aus. Im Beachvolleyball sind die ganz kurzen Hosen immerhin seit 2012 nicht mehr Pflichtbekleidung.

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Ich habe mich bei ihr immer als die kleine Turnerin gesehen und nie als wirklich erwachsener, wertgeschätzter Mensch. Ich konnte nicht auf Augenhöhe mit ihr kommunizieren.

Kim Bui,

über ihre ehemalige Trainerin

Verletzlich bleiben die Sportlerinnen auch abseits von Bekleidungsvorschriften, weil sie häufig in problematischen Abhängigkeitsverhältnissen zu Coaches oder anderen Offiziellen stehen. „Ich habe mich bei ihr immer als die kleine Turnerin gesehen und nie als wirklich erwachsener, wertgeschätzter Mensch. Ich konnte nicht auf Augenhöhe mit ihr kommunizieren“, sagte Bui dem RND über das Verhältnis zu ihrer langjährigen Trainerin.

Ex-Turnerin Kim Bui berichtet in ihrem Buch "45 Sekunden" auch über die dunklen Momente ihrer Laufbahn.

Ex-Turnerin Kim Bui: „Es ist nicht in Ordnung gewesen, wie mit mir umgegangen wurde“

Drei Olympische Spiele, neun Weltmeisterschaften, zwölf Europameisterschaften: Mehr als 20 Jahre turnte Kim Bui auf Weltklasseniveau. Im vorigen August beendete die 34-Jährige ihre Karriere, berichtet nun in ihrem Buch „45 Sekunden“ in erstaunlicher Offenheit auch über die dunklen Momente in ihrer Laufbahn.

Die 34-Jährige hat eine Erklärung dafür, warum so wenige Sportlerinnen und Sportler Machtmissbrauch öffentlich machen: „Angst, Scham, Gewissensbisse mit sich selbst. Man macht sich verletzlich. Und im Sport ist Verletzlichkeit etwas, was als Schwäche angesehen wird. Im Leistungssport sollte man im besten Fall Stärke und keine Schwäche zeigen.“

Sexueller Missbrauch: Betroffene brechen ihr Schweigen immer häufiger

Und so bleiben selbst schwerste Fälle sexuellen Missbrauchs mitunter lange unentdeckt. Für weltweite Fassungslosigkeit sorgte der Fall des früheren Arztes des US-amerikanischen Olympiateams Larry Nassar, der jahrzehntelang mehr als 250 Mädchen und Frauen, darunter einige Olympiasiegerinnen, missbraucht hatte, bevor er zu einer langen Haftstrafe verurteilt wurde. In Deutschland war der damalige Bundestrainer für Freiwasserschwimmen Stefan Lurz im vergangenen Jahr wegen sexueller Handlungen an einer minderjährigen Schwimmerin zu einer auf drei Jahre auf Bewährung ausgesetzten sechsmonatigen Haftstrafe verurteilt worden.

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Das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ hatte zuvor mit Verweis auf die Aussagen von Zeuginnen berichtet, dass es „über Jahre“ entsprechende Übergriffe gegeben habe. Der Wasserspringer und Olympiamedaillengewinner Jan Hempel sprach 2022 in der ARD-Dokumentation „Missbraucht – Sexualisierte Gewalt im deutschen Schwimmsport“ über die jahrzehntelangen Übergriffe durch seinen früheren Trainer.

Doch immerhin ist das große Schweigen mittlerweile zumindest teilweise gebrochen, Athleten und Athletinnen wie Kim Bui zeigen sich selbstbewusster: „Die Leute müssen verstehen, dass schönes Turnen nicht bedeutet, dass man das besonders geil findet oder dass Männer das sehr anzüglich finden“, sagte Buis frühere Kollegin Elisabeth Seitz 2021 dem SWR. Sie habe im Internet immer wieder Fotos von sich gefunden, „die mir auch überhaupt nicht gefallen, eben weil mir in den Schritt fotografiert wurde“.

Die deutschen Turnerinnen sind auch deswegen als erste Nation vor zwei Jahren erstmals in sogenannten Unitards, also langen Anzügen anstelle der an Badeanzüge erinnernden herkömmlichen Anzüge, bei Wettkämpfen angetreten. Cheftrainerin Ulla Koch hatte die Idee vorangetrieben, nachdem eine ihrer Athletinnen bekannt hatte, dass sie sich im normalen Outfit nackt fühle.

Sarah Voss, Pauline Schäfer, Elisabeth Seitz und Kim Bui aus Deutschland stehen nach dem Vorkampf bei den Olympischen Spielen 2021 zusammen. Mit ihren Anzügen haben sie ein Zeichen gesetzt.

Sarah Voss, Pauline Schäfer, Elisabeth Seitz und Kim Bui aus Deutschland stehen nach dem Vorkampf bei den Olympischen Spielen 2021 zusammen. Mit ihren Anzügen haben sie ein Zeichen gesetzt.

Bui merkt im RND-Interview zudem an: „Warum bei Frauen die Tapefarbe nur hautfarben sein darf, bei Männern aber auch weiß oder schwarz, das frage ich mich schon.“ An dieser Stelle lohnt ein Vergleich der Formulierungen im Regelwerk. Denn: Bei den Frauen „sollten“ die Bandagen beige- oder hautfarben sein. Bei den Männern werden hautfarbene Bandagen nur „empfohlen“. Im Fall der norwegischen Beachhandballerinnen lässt ein Vergleich mit den Vorgaben bei den Männern im wahrsten Sinne des Wortes tief blicken. Deren Hosen mussten nämlich „mindestens zehn Zentimeter“ über dem Knie enden, während die Bikinihosen der Frauen eine Seitenbreite von „maximal zehn Zentimetern“ aufweisen sollten.

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Massiver Druck führt zu Regeländerung – doch nur bedingt

Das Reglement wurde nach massivem öffentlichem Druck mittlerweile geändert. Die Hosen der Frauen dürfen jetzt länger sein, enganliegend müssen sie im Gegensatz zu den Vorgaben bei den Männern weiterhin bleiben. Und die Männer dürfen obenrum ein normales Tanktop tragen, bei den Frauen muss dieses „body fit“, also „körperbetont“ sein.

Bei manchen Sportarten steckt der Teufel also weiterhin im Detail. Und manche der neuen Möglichkeiten bleiben auch unbeachtet, wie Ex-Turnerin Bui im RND-Interview anmerkt: „Interessanterweise gibt es weltweit bis heute kein anderes Team, das mit langbeinigen Anzügen turnt, obwohl viele gesagt haben, dass sie wunderschön sind und nach den Schnitten gefragt haben.“

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