Hochspringerin Ulrike Meyfarth: „Das Attentat ist nicht von meinem Erfolg zu trennen“
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Sprung in die Herzen: Die 16-jährige Hochspringerin Ulrike Meyfarth jubelt nach der Landung.
© Quelle: UPI/dpa
Sie sind Doppelolympiasiegerin im Hochsprung, haben 1972 und 1984 Gold gewonnen. Welche Goldmedaille bedeutet Ihnen mehr?
Die erste Goldmedaille 1972 war natürlich ein besonderes Erlebnis. Sie war unerwartet, und dass ich sie in München und so quasi in einem Heimspiel gewinnen konnte und das ganze Stadion hinter mir stand, war schon einmalig. Sportlich ist für mich die Medaille von 1984 wertvoller.
Damals in München waren Sie erst 16 Jahre alt, Ihr Erfolg kam völlig überraschend. War 1984 vielleicht auch deswegen wichtig, weil die Goldmedaille Ihren Sieg von 1972 bestätigte?
Die von mir bewusst erarbeitete Goldmedaille von 1984 hat nicht die mir gleichsam in den Schoß gefallene von 1972 bestätigt. Für mich war es Genugtuung und Befriedigung, dass ich meine Karriere 1984 mit einem Olympiasieg beenden konnte. Insofern hat die Goldmedaille von Los Angeles den Kreis geschlossen. Denn nach Olympia 1972 hatte ich mit der großen Öffentlichkeit und den Medien zu kämpfen, hatte Probleme in der Schule und die normalen Schwierigkeiten einer Teenagerin. Ich entschloss mich dann, mich aus dem bis etwa 1978 anhaltenden sportlichen Tal gezielt mit Vereins- und Trainerwechseln herauszuarbeiten. Ich wollte es nicht bei meinem Münchner Olympiasieg belassen. Das ist mir insbesondere in den Jahren ab 1980 unter anderem mit Weltrekorden und dem Sieg bei den Olympischen Spielen 1984 gelungen.
Schauen wir auf die Olympischen Spiele von 1972: Es sollte damals das heitere Deutschland gezeigt werden, als klarer Schnitt zu Olympia 1936 in Berlin. Haben Sie von all diesen Aufladungen etwas mitbekommen?
Das hat mich eigentlich überhaupt nicht berührt. Mit 16 Jahren ist man nicht so politisch angehaucht, dass einem das präsent ist. Klar wusste ich, dass 1936 Olympische Spiele stattgefunden hatten. Ich war mir aber nicht bewusst, dass zum Beispiel die helle und leichte und leuchtende Farbgebung der Spiele in München Weltoffenheit zeigen und damit in Kontrast zu den Nationalfarben 1936 in Berlin stehen sollte.
50 Jahre Münchner Olympia-Attentat
Am 05. September 1972 überfielen 8 palästinensische Terroristen die israelische Olympiamannschaft. Die Aktion endete in einer Tragödie.
© Quelle: RND
Sind Sie denn während der Eröffnungsfeier mit einem heiteren Gefühl ins Stadion gegangen?
Also, wenn ich nicht heiter gewesen wäre, wer sollte es dann sonst gewesen sein? Ich war frei von allen Erwartungen und allem Leistungsdruck. Ich war froh, bei Olympischen Spielen im eigenen Land sein und im internationalen Wettstreit mitmachen zu dürfen.
„Das alles kam mir vor wie im Film“
Wenn wir zum Wettkampf kommen: Nach Stunden des Springens lagen Sie noch gemeinsam mit der Bulgarin Jordanka Blagoewa und der Österreicherin Ilona Gusenbauer bei der Höhe von 1,88 Meter im Rennen. Sie drei sprangen um Gold. War Ihnen schon zwischendurch der Gedanke gekommen, dass der große Triumph möglich ist?
Ich sah ja an der Anzeigetafel, wie mein Name immer höher und höher wanderte. Bei 1,88 Meter tauchte ich auf einmal an dritter Stelle auf. Und da nur noch drei Hochspringerinnen im Wettkampf waren, stand fest, dass es auf jeden Fall für Bronze reicht. Das alles kam mir vor wie im Film.
Als die Latte auf 1,88 Meter lag, wachte auch so langsam das Publikum auf.
Ja, das Publikum registrierte plötzlich: Meyfarth? Den Namen haben wir noch nie gehört, wer ist das denn? Die gucken wir uns mal genauer an. Das Stadion wurde dann auch nicht leer, als sich der Wettkampf in die Abendstunden zog. In der Konzentrationsphase vor jedem Sprung war es mucksmäuschenstill. Da bekomme ich jetzt noch eine Gänsehaut, wenn ich mir das vor Augen halte. Nach dem gelungenen Versuch schrie das ganze Rund vor Begeisterung.
War diese Unterstützung des Publikums eher Ansporn, oder haben Sie auch wachsenden Druck verspürt?
Ich habe bei dem Wettkampf überhaupt keinen Druck empfunden, auch nicht ab den Höhen ab 1,88 Metern. Es lief einfach. Ich war im Flow.
„Ich habe tatsächlich ein paar Pfiffe vernommen“
Eine Szene fällt auf: Das Münchner Publikum wird im Nachhinein ja immer als sehr fair beschrieben. Aber als sie 1,90 Meter im ersten Versuch gerissen haben, wurde plötzlich gepfiffen. Hat Sie das irritiert?
Ich habe da tatsächlich ein paar Pfiffe vernommen und fand das doch etwas seltsam. Ich bin die 1,90 Meter ja vorher noch nie gesprungen. Aber dieses Verständnis hatten einige wohl nicht. Doch auch das hat mich nicht aus der Ruhe gebracht, ich habe mich auf den zweiten Versuch sehr gut konzentrieren können. Vor dem bin ich unter die Latte getreten und habe geschaut, wie hoch diese Höhe über meiner Körperlänge liegt. Ich musste mich mit den 1,90 Meter anfreunden. Dann bin ich zu meiner Anlaufmarke gegangen und ganz ruhig angelaufen und fühlte mich beim Absprung ganz leicht.
Sie gewannen dann nach Ihren übersprungenen 1,90 Meter und einem dramatischen Finish Gold und überquerten nach dem Sieg sogar noch die 1,92 Meter und stellten damit den Weltrekord ein. Die Goldmedaille war perfekt. Warum schauten Sie eigentlich so ernst bei der Siegerehrung?
Das war für mich natürlich eine ganz neue und unerwartete Situation. Ich habe viele Sportlerinnen und Sportler vor Freude und Rührung weinen sehen. Ich habe gedacht, ich muss mich jetzt zusammenreißen. Ich wollte keine Gefühle zeigen. Das war mir unangenehm. Ob man erst älter werden muss, um zu seinen Gefühlen zu stehen, mag sein, ist wohl auch eine Typfrage. Auch bei der Siegerehrung 1984 habe ich mich nicht in Gefühlen verloren.
Es ist ja nicht nur als 16-Jährige schwierig, als Olympiasiegerin dermaßen im Mittelpunkt zu stehen. Wie sind Sie damit klargekommen?
Ich habe versucht, mich zu verkleiden, irgendwie die Frisur zu verändern, einen Hut und eine Sonnenbrille aufzusetzen. Es hat mich trotzdem auf der Straße jeder erkannt. Allein wegen meiner Körpergröße und wegen meines Gesichtsprofils wurde ich nicht übersehen. Ich musste mich wohl oder übel daran gewöhnen und habe mich mit der Zeit auch daran gewöhnt, eine bekannte Person zu sein und auf der Straße, im Kaufhaus, im Museum oder im Restaurant angesprochen zu werden.
Gab es irgendeine Form von Hilfe?
Nein. Damals gab es keine Medien- oder PR-Berater. An so was dachte man auch im Amateurzeitalter nicht. Wovon hätte ich denn solche Leute bezahlen sollen?
Sie haben Ihre Goldmedaille am Abend des 4. September 1972 ersprungen. Am Morgen danach überfielen bewaffnete Palästinenser israelische Sportler im olympischen Dorf und töteten sie später. Sie sind also als Olympiasiegerin eingeschlafen, wie sind Sie aufgewacht?
Ich bin auch noch als Olympiasiegerin aufgewacht. Ich war gespannt, was an dem Tag los sein würde. Ich ging dann zum Frühstück in die Mensa, wo ich eine Kollegin treffen wollte. Erst dort habe ich erfahren, was passiert ist, dass Terroristen im Männerdorf in der Connollystraße ein Haus überfallen haben.
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Angriff auf die Spiele: Ein vermummter arabischer Terrorist zeigt sich auf dem Balkon des israelischen Mannschaftsquartiers im Olympischen Dorf der Münchner Sommerspiele.
© Quelle: picture alliance / dpa
War Ihr Quartier in der Nähe?
Nein. Das war im Frauendorf und etwas weiter weg. Ich bin auch nicht ins Männerdorf zur Connollystraße gegangen.
Hatten Sie das Gefühl, dass Ihnen durch dieses schreckliche Ereignis der Sieg oder die Freude über das olympische Gold gestohlen wird?
Ja, das Gefühl hatte ich zunächst tatsächlich. Aber ich dachte auch mit einer gewissen Erleichterung, dass jetzt niemand auf mich achtete. Mir war dann auch schnell klar, dass dieser schreckliche Anschlag und nicht meine Goldmedaille fortan die Spiele bestimmen würde. Tage später wurde mir aber auch bewusst, dass sich die Menschen künftig an meinen unerwarteten Olympiasieg erinnern und das Attentat verdrängen und kaum mehr wissen würden, wie viele israelische Geiseln umgekommen waren. Genau deswegen ist für mich immer wichtig, bei der Erinnerung an oder Gesprächen über die Olympischen Spiele 1972 auf das Attentat und darauf hinzuweisen, dass es nicht von meinem Erfolg zu trennen ist.
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Nach dem Attentat: Die Olympiafahne weht auf Halbmast.
© Quelle: IMAGO/Horstmüller
Es gab ja damals auch unter den Sportlern und Sportlerinnen Diskussionen, ob die Spiele weitergehen sollen oder nicht. Haben Sie diese Diskussionen mitbekommen? Haben Sie sich beteiligt?
Natürlich habe ich die Diskussionen mitbekommen, die vornehmlich ältere, gestandene Athleten geführt haben. Einige wenige Sportler sind auch nach Hause gefahren. Ich war froh, dass ich meinen Wettkampf hinter mir hatte. Letztlich fand der weit überwiegende Teil von uns Sportlern es richtig, dass die Spiele fortgesetzt wurden und es von IOC-Präsident Avery Brundage hieß „The games must go on“. Für die Angehörigen der Opfer klang dieser Satz sicherlich brutal hart. Aber ein Abbruch der Spiele wäre höchst problematisch gewesen und hätte als Nachgeben gegenüber dem Terrorismus angesehen werden können.
Wenn nicht wie jetzt ein Olympiajubiläum ansteht, welche Rolle spielt dann die Erinnerung an München? Denken Sie noch oft an die Spiele zurück?
Wieso fragen Sie mich das nur im Hinblick auf München 1972? In Los Angeles habe ich 1984 doch auch eine Goldmedaille gewonnen! Im Alltagsleben denke ich an keinen der Olympiasiege. Wenn man im Beruf ist und Familie und Kinder hat – auch wenn sie jetzt schon aus dem Haus sind –, hat man anderes zu bedenken und zu tun. Aber dass ich gerade in diesem Jahr meine Erinnerung an Olympia 1972 wegen so vieler Interviewanfragen aller möglichen Medien und Veranstaltungen unterschiedlichster Art auffrischen muss, finde ich auch sehr schön.
Olympiasiegerin und Diplomsportlehrerin
Im Jahr 1971, da war sie gerade 15 Jahre alt, wurde Hochspringerin Ulrike Meyfarth Zweite bei den Deutschen Leichtathletikmeisterschaften. Ein Jahr später trat sie bei den Olympischen Spielen in München an – und holte Gold. Zwölf Jahre später wiederholte sie den Erfolg in Los Angeles. Ulrike Nasse-Meyfarth, wie sie seit ihrer Heirat 1987 heißt, lebt in der Nähe von Köln und hat zwei erwachsene Töchter. Die 1,88 Meter große Diplomsportlehrerin arbeitet als Trainerin für Schüler und Schülerinnen bei Bayer 04 Leverkusen.
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