Zimmerreisen: Warum wir für Reisen nicht zwingend unterwegs sein müssen
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Eine Frau steht in ihrem Zimmer mit Kaffee in der Hand – Zimmerreisen sind Reisen, ohne zu reisen.
© Quelle: imago images/Westend61
„Bitte verzichten Sie auf alle nicht zwingend notwendigen Reisen“ – dieser Begriff prägte das Corona-Jahr 2020. Geschlossene Grenzen, Reisebeschränkungen und Quarantäneregelungen sorgten dafür, dass viele Menschen nicht in die Ferne fuhren. „Staycation“ – Urlaub zu Hause oder in der eigenen Stadt – wurde im Frühjahr und Sommer 2020 zum Trend.
Diese Idee ist aber nicht neu, im Gegenteil: Vor mehr als 200 Jahren wurde Xavier de Maistres Buch „Voyage autour de ma chambre“ (Deutsch: Die Reise um mein Zimmer) zum Bestseller. Er ist der Prototyp der sogenannten Zimmerreisen, bei denen die Protagonisten statt der weiten Welt das Zimmer, den Garten, die Schublade, oder den Schreibtisch „bereisen“. Literaturwissenschaftler Bernd Stiegler hat der Geschichte dieser einst populären Reiseform der Zimmerreisen in seinem Buch „Reisender Stillstand“ nachgespürt. Im Interview mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) erklärt er, wie sich auch im Alltäglichen unendliche Weite entfalten kann – und was wir von Zimmerreisen fürs „echte“ Reisen lernen können.
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Bernd Stiegler ist ein deutscher Literaturwissenschaftler und Philosoph – er hat das Phänomen der Zimmerreisen untersucht und 2020 erstmals selbst eine gemacht.
© Quelle: privat/RND
Herr Stiegler, was genau ist eine Zimmerreise?
Bei einer Zimmerreise geht es darum, unsere gewohnte Umgebung dank einer Reise durch den Alltag neu wahrzunehmen. Die literarische Gattung gibt es seit dem späten 18. Jahrhundert. Ihre Anfänge liegen bei Xavier de Maistre, der von 1763 bis 1852 lebte. Er musste aufgrund eines Duells 42 Tage in Hausarrest und nahm diesen zum Anlass, einen lang gehegten Wunsch in die Tat umzusetzen: eine Zimmerreise. Darüber schrieb er einen Text von etwas mehr als 100 Seiten, in dem er die Gegenstände um ihn herum beschreibt und sie jeweils mit ihrer Geschichte versieht – also die Weltgegenden, wie er sagt, seines Zimmers bereist. Was hat sich zugetragen auf diesem Kanapee? Warum ist dieses Bild so wichtig?
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Es geht beim Zimmerreisen immer um das gleiche Prinzip: Sie startet bei einem bestimmten Gegenstand, mit dem man sich näher beschäftigt. So nimmt man eine Distanz zum eigenen Alltag ein – um diesen und die eigene Existenz mit anderen Augen zu sehen.
Das klingt fast so, als wäre diese Art des Reisens ideal für Stubenhocker.
Ganz und gar nicht. Xavier de Maistre beispielsweise war ein außerordentlich aktiver Zeitgenosse, der sogar mit der Montgolfière gereist und viel in der Welt herumgekommen ist. Er hat auch in verschiedenen Ländern gelebt, zum Beispiel in Italien und Russland. Das eine schließt das andere keineswegs aus. Es geht hier nur um eine bestimmte Art zu reisen, die sich von einer Fernreise gar nicht so sehr unterscheidet, wenn es um den Blick auf die eigene Existenz geht. Und die Idee von de Maistre wurde auch weitergedacht: Nachahmer reisten mal im Zimmer, mal im Garten, mal in der Nachbarschaft.
Das heißt, man kann Zimmerreisen auch außerhalb des Zimmers machen?
Ja. Nehmen Sie den Journalisten Joël Henry, er hat das experimentelle Reisen weiterentwickelt. Henry schlägt vor, doch mal einen Tag am Flughafen zu verbringen und dann wieder nach Hause zu fahren. Man könnte auch die Straßen der eigenen Stadt von A bis Z zu bereisen oder das Planquadrat K2 des Stadtplans erkunden – so hat man die nähere Umgebung sicher noch nie erlebt.
Sie haben den ersten Lockdown im März zum Anlass genommen, ihre erste eigene Zimmerreise zu machen. Erzählen Sie doch mal.
Nach der Veröffentlichung des Buches im Jahr 2010 haben mich viele Leute gefragt, ob ich Reiseverächter oder Reisemuffel wäre und eine neue Art des Reisens propagieren wolle. Aber tatsächlich hatte ich nie selbst eine Zimmerreise gemacht – und das auch bis zu diesem Jahr nie im Blick. Aber beim Lockdown im März dachte ich: Wann, wenn nicht jetzt?
Das war schon eine besondere Erfahrung. Ich bin durch meine Wohnung gezogen und habe überlegt, mit welchen Dingen ich mich intensiv beschäftigen will. Ich habe Fotos gemacht, jeden Tag einen Text über einen Gegenstand geschrieben und dann zusammen mit dem Bild auf Facebook veröffentlicht. Das waren mal mehr und mal weniger persönliche Geschichten, manche hatten unmittelbar mit dem Lockdown zu tun, wie etwa ein Text über den Zug, der vor meinem Fenster vorbeifuhr und mit einem Mal ganz leer war. Und da waren auch Gegenstände von Fernreisen, wie ein handelsüblicher Salzstreuer aus einem japanischen Supermarkt. Den benutze ich heute noch. Er hat eine besondere Geschichte: Ich war mal in Tokio, nur eine Woche, und gerade in dieser war das Fukushima-Unglück. Das war also eine sehr spezielle Reiseerfahrung, die an dem Salzstreuer hängt und die ich noch einmal habe Revue passieren lassen.
Wenn ich diese Art des Reisens nun auch mal ausprobieren will: Was brauche ich – gepackte Koffer wohl nicht?
Nein, an Material braucht man gar nicht viel. Stift, Zettel und vielleicht einen Fotoapparat oder ein Smartphone mit Kamera, das reicht eigentlich schon.
Wie sollte ich die erste Zimmerreise dann angehen, gibt’s eine Anleitung?
Zuerst einmal muss man sich Regeln geben, ohne die geht es nicht. Eine Regel könnte lauten: Ich schreibe jeden Tag einen Text zu einem Gegenstand, den ich näher betrachte. Oder: Ich bastle jeden Tag eine Collage oder drehe ein kleines Video. All diese Formen – und sicher auch viele andere – gestatten es, die Dinge aus dem jeweiligen Kontext herauszulösen.
Und dann?
Und dann kann man loslegen. Eine Zimmerreise muss nicht geordnet sein, im Gegenteil. Meist ist diese Art des Reisens wahnsinnig ungeordnet, das ist auch ihr Charme. Sie können damit starten, durch Ihre Wohnung zu streifen. Nehmen Sie verschiedene Gegenstände genauer in den Blick und überlegen Sie sich, bei welchem Sie verweilen wollen – vielleicht bei der Küchenuhr, der Lampe im Flur oder einer Butterbrotdose. Fragen Sie sich: Was fällt mir dazu ein? Habe ich dazu eine Geschichte? Haben diese Dinge eine Geschichte? Dazu kann alles Mögliche gehören: Erinnerungen, Wünsche oder gar reine Fiktion. Im 19. Jahrhundert haben einige Zimmerreisende so etwa eine Art Kulturgeschichte der jeweiligen Gegenstände geschrieben. Die Kaffeedose war dann Anlass, eine Geschichte des Kaffees zu erzählen, wie er nach Europa kam, usw.
Viele Menschen haben aktuell Fernweh. Kann da eine Zimmerreise helfen?
Sie hilft vor allem gegen ein dumpfes Lebensgefühl. Dieses Corona-Gefühl ist ja ein bisschen so, als ob sich Mehltau auf alles gelegt hätte und als ob die einzelnen Dinge miteinander verklebt wären. Eine Zimmerreise hilft dabei, die Dinge wieder ein wenig auseinanderzunehmen, um sie präziser zu sehen, die Wahrnehmung zu schärfen und dadurch auch die Gedanken wieder neu zu sortieren und aus dem Corona-Trott herauszuziehen.
Ansonsten weckt eine Zimmerreise wohl eher das Fernweh, da ich Erfahrungen, die ich in der Ferne gemacht habe, nochmals erinnere und durchlebe, wenn ich die Dinge betrachte, die ich von ihnen mitgebracht habe. Der Klassiker ist: Man sucht alte Fotoalben heraus, schaut noch mal die Bilder an und erinnert sich. Manchmal sind aber gerade die Gegenstände wie ein magischer Schlüssel, der ein ganzes Reich an Erinnerungen aufschließt, an das man lange nicht mehr gedacht hat.
Was können wir von Zimmerreisen für reale Reisen lernen?
Eines der größten Probleme in unserem Alltag – und auch auf Reisen – ist, dass wir ungeheuer viele Dinge nie wahrnehmen oder auf eine immer gleiche Art wahrnehmen. Das hat auch damit zu tun, dass wir in einem so extrem beschleunigten sozialen Raum leben. Eine Zimmerreise steht für das Gegenteil: Entschleunigung. Das Entscheidende dabei ist die Aufmerksamkeit. Aufmerksamkeit bedeutet auch, den Blick, mit dem wir Dinge im Alltag und in anderen Ländern immer schon mit einer Art automatisierter Voreinstellung betrachten, zu weiten und zu schärfen. Diese Form von Sensibilität kann man durch Zimmerreisen lernen. Sie sind eine Art Wahrnehmungsschule, die Dinge unvoreingenommen und präziser zu sehen – und eben nicht mit dem Automatismus, den wir oftmals nutzen.
Bei jedem Umzug erleben wir das: Wir greifen in eine Kiste und nehmen Dinge heraus: Bilder, ein Buch, einen Teddybären. Und dann entfalten sich Gedanken dazu, Erinnerungen, Wünsche, Träume. Dabei werfen wir auch einen verfremdeten Blick auf uns selbst, der uns aus dem Alltag herausrückt. Und das sind, glaube ich, beglückende Momente. Und um diese geht’s doch am Ende – beim Reisen in die Ferne wie beim Reisen in die Nähe.