Job und Urlaub verbinden: Ist das die Zukunft unserer Arbeits­welt?

Sonnenbrille im Gesicht, Flipflops an den Füßen, die Laptoptasche über die Schulter gehängt – Nina K. ist auf dem Weg ins Büro. Oder das, was man in Ponta do Sol Büro nennt: Im Kulturzentrum John dos Passos stehen Tischgruppen auf der Terrasse, Kabelrollen mit Mehrfachsteckdosen liegen herum, an jedem Tisch sitzen junge Menschen mit Laptop und sprechen in anderen Sprachen auf das Gerät ein: Deutsch, Englisch, Spanisch, Niederländisch, Russisch. Nina K. setzt sich draußen an den Tisch und macht Small Talk, während sie ihr Büro aufbaut. „Ich habe den ganzen Nachmittag Calls“, sagt sie auf Englisch und seufzt. Und das bei 25 Grad, Sonnenschein und dem Meer im Sichtfeld. Aber: „Ich hab’ heute eine längere Pause gemacht und war drei Stunden Rad fahren in den Bergen“, sagt sie, „das schöne Wetter musste ich nutzen.“ Stattdessen wird sie heute länger arbeiten. Ponta do Sol an der Südwestküste der portugiesische Insel Madeira ist das erste Digital Nomad Village der Welt, ein Ort, an dem sich Menschen aus aller Welt treffen, die ortsunabhängig und oft auch zeitlich flexibel arbeiten können. Homeoffice mit Meerblick quasi. Es gibt hier kostenfreie Arbeitsplätze und eine Infrastruktur, die es Menschen, die das satte Grau ihrer Wohnung und den Corona-Blues satthaben, einfach macht, das Büro auf Zeit an einen anderen Ort zu verlagern. Die private Initiative Start-up Madeira und die Inselregierung haben das Programm Digital Nomad Village im Februar 2021 initiiert, um den aufgrund der Corona-Pandemie lahmenden Tourismus zu fördern. Die kostenfreien Arbeitsplätze, sogenannte Co-Working-Spaces, sind mit schnellem und zuverlässigem Internet ausgestattet und wirken, zumindest drinnen, wie übliche Büros. Nur die Menschen, die neben einem sitzen, arbeiten eben nicht für die gleiche Firma – und sie sind nicht unbedingt morgen noch da. Persönlichkeitscoach Oliver G. zum Beispiel sagt, er habe vor Corona nicht ortsunabhängig arbeiten können. „Da hat sich nun aber ein Fenster geöffnet und ich will es einfach mal ausprobieren. Ich will schauen, wie modernes Arbeiten funktioniert.“ Oder Judith Mühlenhoff, die bei der Deutschen Stiftung für die Wissenschaft arbeitet und, wie sie sagt, Vitaminmangel im zweiten Corona-Winter in Berlin hatte – durch Homeoffice, Lockdown, Social Distancing. Oder IT-Unternehmensberaterin Amina Breit, die sofort loszog, als ihre Firma damit warb, dass Arbeitnehmende 120 Tage Homeoffice im EU-Ausland verbringen dürfen. „Berlin im Winter ist ein trauriger Ort, trist und grau“, sagt sie. Eine große Umstellung ist es nicht, sie arbeitet weit mehr als acht Stunden am Tag und macht danach Sport. Sonne und Natur sieht sie vor allem durch das Fenster. Aber: „Ich brauche einfach die Wärme.“ Die Deutschen sind gut darin, die Arbeit mit in den Urlaub zu nehmen – jeder Dritte loggt sich im Urlaub in Zoom-Meetings ein. Bei Workation aber geht es quasi um das Gegenteil: die Arbeit wird direkt an einen Urlaubsort verlagert. Alleine 2021 verdoppelte sich bei Google das Suchvolumen zum Begriff Workation. Das Technologieunternehmen erlaubt übrigens jedem Arbeitnehmenden vier Wochen Workation im Jahr. Auf Madeira ist schon Realität, was sich in den vergangenen Jahren auch in Deutschland angebahnt hat: Arbeit und Freizeit verschwimmen. „Unser Reiseverhalten ändert sich, unsere Arbeitsweise verändert sich, und damit verändert sich auch die Schnittstelle zwischen Arbeit und Urlaub“, sagt Tourismusforscher Harald Pechlaner. Workation ist also mehr als Spaß. In einer repräsentativen Umfrage von Expedia geben 74 Prozent der Arbeitnehmenden, die 2021 eine Workation gemacht haben, an, dass der Aufenthalt nicht mit Urlaub zu vergleichen sei, rund die Hälfte gibt an, sich nach Feierabend weiter mit Arbeit beschäftigt zu haben. Madeira hat mit dem Programm nicht nur den Tourismus wiederbelebt, sondern sich auch eine neue Zielgruppe erschlossen. Kamen früher vor allem ältere Menschen zum Wandern auf die immer grüne Blumeninsel, sind nun jüngere in allen Unterkünften anzutreffen. „Es hat einen Wandel gegeben, man sieht nun überall so viele junge Menschen – und diese tragen weiter, dass Madeira ein toller Ort ist“, sagt Micaela Vieria, Projektmanagerin des Digital Nomad Villages. Zahlreiche Hotels, Villen und Apartments fokussieren sich auf die neue Klientel. Nebst privaten Rückzugsbereichen gibt es Gemeinschaftsflächen wie Bibliotheken, Fitnessstudios, Pools, Küchen, Spielezimmer und Arbeitsbereiche. Wer ganz eintauchen möchte in die Community, lebt in Co-Living-Spaces, Villen, in denen mehrere Menschen zusammenkommen und nicht nur gemeinsam – und doch ganz alleine – arbeiten, sondern auch zusammen kochen, Sport machen und bei Ausflügen die Insel erkunden. Für Hotels und Apartmentvermieter kann das ein lukratives Geschäft werden, sagt Tourismusforscher Pechlaner. „Workation ist ein neuer Trend und ich bin mir sicher, dass das anhält. Ortsunabhängiges Arbeiten ist die Arbeit der Zukunft.“ In der Pandemie habe sich eine Vertrauenskultur zwischen Arbeitnehmenden und Arbeitgebenden entwickelt, weiß Pechlaner. Eine Kultur, die Jasmin Di Napoli bereits lebt. Für die Unternehmerin im Beautybereich ist Zuverlässigkeit das wichtigste Gut – und ortsunabhängiges Arbeiten Alltag. Das geht sogar zusammen, denn mit ihren beiden Mitarbeiterinnen war Di Napoli zur Workation auf Madeira. „Bei mir fing eine neue Mitarbeiterin an, aber ich wollte von unterwegs arbeiten“, sagt die 28-Jährige. Also fand die Einarbeitung auf Madeira statt. Vier Wochen lernten sie sich kennen, arbeiteten intensiv zusammen, optimierten Prozesse, wie die Jungunternehmerin sagt. „Man lernt seine Angestellten definitiv anders kennen“, sagt sie, „jede hat andere Bedürfnisse.“ Denn auch das gehört zur Realität: Eine neue Umgebung, eine neue Arbeitsumgebung, kann auch erst einmal überfordern. Tagsüber arbeiteten sie zeitgleich im Arbeitsbereich ihrer Co-Living-Unterkunft, nach Feierabend unternahmen sie mal gemeinsam etwas, mal getrennt. „Wir arbeiten mit Kundinnen, daher hatten wir normale Bürozeiten“, sagt Jasmin Di Napoli. Aber: „Du machst Feierabend und es ist noch warm, du kannst noch richtig was machen, das ist Lebensqualität“, sagt die Stuttgarterin, „Glücklichsein ist ein wichtiger Bestandteil der Gesundheit.“ Für ihre Firma war es eine Investition, die sich gelohnt hat, wie Jasmin Di Napoli sagt. Auch deshalb plant sie schon eine nächste firmeninterne Workation für den kommenden Herbst oder Winter – dann aber mit einer Villa, in der keine anderen Menschen sind. Noch wisse man nicht, wie sich Workation auf die Menschen auswirke, dafür sei das Phänomen zu neu. Aber: „Arbeiten an einem Ort, der Urlaubsgefühle weckt, kann einen Erholungseffekt bringen“, sagt Pechlaner. Zumindest, wenn die Balance zwischen Anspannung und Entspannung gelingt. Wer in die Natur blicke, erlebe eine ganz andere Art von Inspiration, meint Pechlaner. Gleichzeitig könnten auch Unternehmen profitieren. „Man arbeitet doch am besten, wenn es einem gut geht“, sagt Oliver G. Ortsunabhängiges Arbeiten war vor Corona nur eine Randerscheinung. Doch in der Pandemie verbrachten in Deutschland rund 40 Prozent der arbeitenden Bevölkerung entweder ganz oder teilweise Zeit im Homeoffice. Aktuell geben rund 28 Prozent der Beschäftigten an, von zu Hause aus zu arbeiten. Doch die Homeofficepflicht endet am 20. März 2022 offiziell. Wird es ein Zurück ins Büro geben? Immerhin ist Deutschland in Sachen Arbeitsmarkt eher konservativ, das Büro als zentraler Ort, an dem Arbeitsschutzregeln gelten, der Arbeitsplatz. „Ich denke, es wird einen Wechselbetrieb geben. Kein ‚Nur-noch-Büro‘ oder ‚Nur-noch-Homeoffice‘“, sagt Werner Eichhorst vom Institut zur Zukunft der Arbeit. „Viele werden künftig entscheiden können, wann und wo sie arbeiten.“ Während einige das Büro mit Kollegium in der Pandemie vermissten, fühlen sich andere im Homeoffice wohler. „In der Pandemie gewonnene Handlungsstrukturen will man nicht aufgeben“, sagt er. So hätten Arbeitgebende wie Arbeitnehmende durchaus Vorteile erkannt, wozu das konzentriertere Arbeiten gehört, aber auch der Wegfall von Fahrzeiten und Sprit- oder Bahnkosten. Gleichzeitig habe man gesehen, dass das Büro als Ort der spontanen Kommunikation mit Kolleginnen und Kollegen sowohl als sozialer Anlaufpunkt als auch Kreativraum wegfiel. „Ich denke, beide Seiten werden sich Gedanken machen, wann und wo man sich trifft, sodass es beispielsweise flexible Formen mit bestimmten Präsenztagen geben kann.“ Denn auch das ist klar: Mit der neuen Freiheit müssen Beschäftigte und Firmen lernen umzugehen. Es bedarf neuer Tagesstrukturen, Routinen, Arbeitsabläufe – einer ganz anderen Disziplin. Die Realität ist: Die Babyboomer gehen in Rente, heran wächst eine neue Generation von Arbeitnehmenden, mit einem neuen Selbstwertgefühl. „Arbeitgeber müssen ihre Beschäftigen bei Laune halten“, sagt Eichhorst. Mit dem Fachkräftemangel steigt in vielen Branchen der Verhandlungsspielraum von Beschäftigten – die wiederum nicht ausschließlich nur mehr Geld oder Karriere wollen, sondern auch ein Arbeitsumfeld, das zu ihnen passt. „Lebensqualität ist wichtiger als der Kontostand, Freiheit und Zeit ist wichtiger als Geld“, sagt der Unternehmer Thomas Weidlich. Er glaubt an privates wie wirtschaftliches Wachstum durch Workation und digitales Nomadentum. „Die Tür Homeoffice ist durch Corona auf – und die Menschen haben eine Perspektiverweiterung erlebt“, sagt er. Deshalb plant er mit seinem Blue Ocean Business Club, eine Villa auf Madeira zu kaufen, um dort Co-Creation anzubieten: ein Ort, an dem zusammen gelebt und gearbeitet wird, einzeln wie im Kollektiv. „Firmen, die wirklich produktiv sein wollten, müssten sich den Menschen und deren Bedürfnissen anpassen“, sagt er. „Man muss schauen, wann der Einzelne am besten ist – manchmal ist es so, dass die Zeiten mit dem Biorhythmus kollidieren“, so Weidlich, der seit zweieinhalb Jahren um die Welt reist und dabei arbeitet. Im Modell von Weidlich verschwimmen Freizeit und Arbeit komplett, alle Begegnungen sind sowohl im privaten als auch im beruflichen Kontext zu sehen. Im Bewusstsein sei verankert, dass wir Pausen bräuchten, um Erschöpfung auszugleichen. Er hat einen anderen Ansatz: „Pausen sollten Zeit für kreativen Spielraum bieten.“ Inspiration erfolge durch die neue Umgebung, den Austausch und internationale Perspektiven. Wer Arbeit und Urlaub verbinde, könne auch ein Leben schaffen, in dem ein Urlaub an sich nicht mehr notwendig sei. „Wir sollten die Verschmelzung zulassen, wo sie möglich ist.“ Weidlich, Di Napoli, aber auch Arbeitsforschende gehen davon aus, dass sich der Arbeitsmarkt schon aufgrund des demografischen Wandels ändern wird. „Ich habe den Eindruck, dass mehr auf das Individuum geachtet wird. Junge Leute wollen sich nicht in feste Strukturen pressen lassen. Man wird in Zukunft mehr auf den Menschen schauen, nicht auf das Arbeitstier“, sagt etwa Jasmin Di Napoli. „Ich erlebe ein neues Selbstbewusstsein von jungen Arbeitnehmenden. Die kündigen eben, wenn ihnen Anreize fehlen“, sagt Weidlich. Dass sich der Arbeitsmarkt komplett reformiert, daran glaubt zumindest Arbeitsexperte Eichhorst nicht. Abgesehen davon, dass die Mehrheit gar nicht im Homeoffice oder ortsunabhängig arbeiten kann, gibt es viele, die es auch aus persönlichen Gründen – etwa wegen der Familie – nicht tun würden. „Ich kann mir vorstellen, dass viele es erst einmal ausprobieren wollen, weil die Angebote gerade da sind“, sagt er, „ob viele das dann wirklich längerfristig machen, wird man sehen.“ Möglich wäre nämlich auch das Gegenteil: Eine striktere Trennung von Freizeit und Arbeit, weil man sich „die nette Umgebung nicht durch Arbeit verderben“ wolle, so Eichhorst. Nur von einem ist er überzeugt: „Es wird mehr Vielfalt, mehr Optionen geben.“

Workation: Job und Urlaub verbinden - ist das die Zukunft unserer Arbeitswelt?

Job und Urlaub verbinden: Ist das die Zukunft unserer Arbeitswelt?

Mehr aus Reise

Das Geisterhotel auf Bali verpasst Ihnen eine Gänsehaut

Das sind die schönsten einsamen Ferienhäuser in Deutschland

Streik an deutschen Flughäfen: Wie ist die Lage am 27. März?

Streik am Montag: Was Sie für Reisen mit Bahn, Auto und Flugzeug wissen müssen

Spartipps: New York City für kleines Geld entdecken

Verwandte Themen

Letzte Meldungen

Was uns der Streik über Dankbarkeit lehrt – und warum er uns alle etwas angeht

Die Kosten der Energiewende: Was, wenn es ernst wird?

Depeche Mode nach dem Tod von Andy Fletcher: zu zweit allein

Reim ist mein ganzes Herz: Warum Lyrik so viel Freude macht

Camillas langer Weg: von der gehassten Ehebrecherin zum Vorbild-Royal

Ampelstimmung auf dem Tiefpunkt: Worum es am Sonntag beim Koalitionsausschuss geht

„Ich bete jede Nacht, dass wir überleben“

Klimaneutral bis 2030: Worüber Berlin am Sonntag per Volksentscheid abstimmt

Trotz Fristende: Mancherorts fehlt noch jede vierte Grundsteuererklärung

IG-Metall-Chef Hofmann: „Das Spardiktat bei der Weiterbildung ist nicht nachvollziehbar“

Spiele entdecken

Kreuzworträtsel

Sudoku

Mahjong

Solitär

Bubble Shooter

Schach

Exchange