Reiseforscher: Wir werden auch im Jahr 2021 nicht wie früher reisen
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Eine Frau steht am Flughafen. Wie werden wir 2021 reisen?
© Quelle: imago images/Panthermedia
“Interkontinental reisen können wir bestenfalls wieder 2021 – und auch das nur begrenzt” – das hat Christian Laesser, Touristikprofessor an der Schweizer Universität St. Gallen, bereits im vergangenen April in einem Interview mit der “Neuen Zürcher Zeitung” gesagt. Damals stand Europa ganz im Zeichen des ersten Lockdowns. Seither hat sich viel getan, mittlerweile befinden sich die meisten Länder in einem zweiten (Teil-) Lockdown. Wie er die Lage jetzt einschätzt, darüber sprach Laesser Ende September im RND-Interview.
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Christian Laesser ist Touristikprofessor an der Schweizer Universität St. Gallen.
© Quelle: Laesser
Sie haben im April in einem Interview gesagt, dass wir bestenfalls 2021 wieder interkontinental reisen können – und auch das nur begrenzt. Wie stehen Sie heute, mehr als ein halbes Jahr später, zu dieser Einschätzung?
In der Tat würde ich heute und in Anlehnung an Aussagen der International Air Transport Association IATA diesen “Termin” noch weiter hinausschieben. Mittlerweile ist es offensichtlich, dass erst dann wieder einigermaßen “normal” gereist werden kann, wenn entweder die Weltbevölkerung größtenteils durchgeimpft ist oder die Quarantänen aufgehoben werden können, weil die Infektionsraten überall ähnlich sind. Mitte 2021 ist immer noch der Best Case – wahrscheinlich wird es länger dauern.
Für Interkontinentalreisen müsste sodann auch das nötige Angebot vorhanden sein, denn aktuell riskiert es keine Airline, mehr als die nötigen interkontinentalen Verbindungen anzubieten. Interkontinental ein Netz wieder hochzufahren ist jedoch keine triviale Übung, das dauert seine Zeit. Der wichtigste Grund ist, dass Fluggesellschaften bei Interkont-Verbindungen immer auch Zubringer- und Abbringerflüge einplanen müssen. Hierbei müssen beim Hochfahren der Netze immer wieder neue Gleichgewichte zwischen Angebot und Nachfrage gefunden werden. Ungleichgewichte entstehen eher durch zu hohe Nachfrage als durch zu umfangreiche Angebote, mit der Folge, dass wir mindestens vorübergehend mit höheren Preisen als vor dem Pandemie rechnen müssen.
Reiseforscher: 2021 wird „Übergangsjahr“
Okay, also weiterhin weniger Fernreisen im nächsten Jahr. Wie wird das Reisen im Jahr 2021 aus Ihrer Sicht denn stattdessen aussehen?
Das nächste Jahr ist aus meiner Sicht ein Übergangsjahr – ich glaube aber nicht, dass wir sehr viel anders reisen werden als dieses Jahr. Aus meiner Sicht gibt es zwei Szenarien. Das erste ist, dass wir weiter wechselnde Quarantänebestimmungen haben. Die Quarantänezeiten werden vielleicht kürzer, es sind vielleicht nicht mehr ganze Länder, wo ich nicht mehr hin kann, sondern nur Regionen. Aber diese ständig wechselnden Regeln werden die Lust am Reisen trotzdem weiter einschränken. Man bleibt dann dort, wo man einigermaßen sicher ist, beziehungsweise man fährt dorthin, von wo man schnell ganz selbstständig auch innerhalb von 24 Stunden wieder nach Hause kommen kann. Sprich: Reisen mit dem Auto, durchaus auch ins Ausland, bleiben aufgrund der damit verbundenen Flexibilität attraktiv.
Reisewarnungen für weitere Regionen in elf EU-Ländern
Die Bundesregierung hat weitere Regionen in der EU zu Corona-Risikogebieten erklärt.
© Quelle: Reuters
Das zweite Szenario – und das halte ich für wahrscheinlicher – wäre: Wir haben überall 14-Tage-Inzidenz-Werte von mehr als 100 oder gar mehr Neuinfektionen auf 100.000 Einwohnern. Aber weil das alle Länder haben werden, könnten wir im Prinzip die Quarantänebestimmungen aufheben – außer für die Hotspots, an denen die Zahlen explodieren. Hierzu brauchen wir eine hohe Zahl der jetzt angekündigten Schnelltests. Unter solchen Voraussetzungen könnte es weniger Reisebeschränkungen geben. Aber ich glaube, die Menschen selbst werden vermutlich noch zurückhaltend bleiben, zum Beispiel aus Angst vor Erkrankungen im Ausland oder wegen eher trüben wirtschaftlichen Perspektiven – etwa aufgrund von Kurzarbeit oder auch unsicherer Einkommensaussichten. Das wird generell die Nachfrage weiter hemmen.
Ein möglicher Game-Changer wäre ein Impfstoff – je nachdem, wie gut er wirkt und wie schnell eine Bevölkerung durchgeimpft werden kann. Aber das halte ich nicht vor Ende 2021 für realistisch, auch wegen der knappen Produktions- und Logistikkapazitäten.
Der Reisesommer 2020 war geprägt von eindrücklichen Bildern, die Extreme zeigten: Einige Touristen-Hotspots wie Venedig waren zeitweise praktisch menschenleer, andernorts sah man überfüllte Strände und feierwütige Touristen auf Mallorca oder in Kroatien. Wieso fällt es uns mitunter so schwer, im Urlaub vernünftig zu agieren?
Grundsätzlich ist es so: Gewisse Anziehungspunkte sind so attraktiv, dass sie viele Menschen anziehen. Städte wie Rom, Florenz und Venedig waren trotzdem leer – das lag aber primär am fehlenden Interkontinentaltourismus. Berge und Strände hingegen sind beliebte regionale Naherholungsziele, an welche die Europäer reisen; sie waren denn diesen Sommer auch sehr gut besucht. Bezüglich der Partytouristen ist es so, dass ein paar Hotspots in Europa diese Art von Urlaubern anziehen. Das war aber nicht das allgemeine touristische Verhalten, was man großflächig beobachten konnte.
Urlaub trotz Corona: Der Reisereporter auf der Urlaubsinsel Mallorca
10.900 Touristen sind im Rahmen eines Pilotprojekts auf die Balearen geflogen, um Urlaub unter Corona-Regeln zu testen. Darunter auch Maike Geißler.
© Quelle: Maike Geißler/RND
Mit der Vernunft im Urlaub ist es aber grundsätzlich schwierig. Denn Urlaub ist eine hochemotionale Angelegenheit, eine Sondersituation. Die Leute wollen sich etwas gönnen. Sie glauben, sie haben ein Recht auf Dinge, auf die sie sonst kein Recht haben. Das sind die Ausnahmewochen im Jahr, in denen Vernunft für viele Menschen ganz hintansteht. Man will, dass es einem gut geht während dieser Zeit – und auch danach, wenn man sich an die Erlebnisse erinnert.
Corona als Chance für mehr Nachhaltigkeit im Tourismus?
Wird uns das Coronavirus vom Massentourismus befreien?
Vorübergehend möglicherweise schon. Das Phänomen Massentourismus entsteht ja, wenn ein Ort oder Punkt erstens derart attraktiv ist, dass er sehr viele Leute anzieht, und zweitens die Anreise preisgünstig möglich ist und der Ort selbst keinen Eintritt kostet. Im Moment gibt es keinen Massentourismus – Grund sind auch die fehlenden Interkontinentalflüge und Kreuzfahrtschiffe, welche sonst die immer gleichen Punkte ansteuern. Einzig gewisse Regionen in den Alpen oder ländliche Regionen erfreuten sich an Massentourismus erinnernde Nachfrage durch regionale Gäste.
Und selbst, wenn die Gesundheitskrise irgendwann vorbei ist, werden wir in vielen Ländern eine wirtschaftliche Krise haben. Rezession und Einkommensunsicherheiten spielen dann eine große Rolle, und das ist Gift für die touristische Nachfrage. Wenn ich nicht sicher bin, ob ich in einem halben Jahr noch einen Job habe, dann werde ich mir zweimal überlegen, wie viel Geld ich für Reisen ausgebe. Das wird sicherlich für längere Zeit für einen Nachfragedämpfer sorgen. Ob aber langfristig der Massentourismus Geschichte ist, das wage ich zu bezweifeln.
Ist die Corona-Krise nicht auch eine Chance, über Probleme nachzudenken, die der Massentourismus mit sich bringt, und nach Lösungen zu suchen? Zum Beispiel in Hinblick auf das Thema Nachhaltigkeit?
Grundsätzlich ist der Verkehr der Haupttreiber im Tourismus, welcher die Nachhaltigkeit verhagelt. Aber dafür fühlt sich niemand federführend verantwortlich, siehe zum Beispiel Flugticketabgabe oder CO₂-Abgaben. Mobilität und in der Folge Verkehr kreiert nicht nur ein touristisches, sondern ein grundsätzliches Nachhaltigkeitsproblem.
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Ein Mann mit dem Transparent “Rettet die Reisebüros” in Potsdam. Das Aktionsbündnis “Wir zeigen Gesicht! Rettet die Reisebüros – rettet die Touristik!” hatte im April zu bundesweiten Aktionen der Reiseveranstalter und Reisebüros für einen Rettungsschirm in der Corona-Krise aufgerufen.
© Quelle: Soeren Stache/dpa-Zentralbild/dp
Aber: Die Diskussion um Nachhaltigkeit ist aktuell in den Hintergrund gerückt. Derzeit geht es ums finanzielle Überleben der Tourismusbranche, von Unternehmen, Privatpersonen und ganzen Staaten. Da sind zunächst einmal viele andere Probleme zu lösen, das Nachhaltigkeitsthema rutscht wahrscheinlich für einige Zeit eher in den Hintergrund.
Die Forderungen nach und Diskussionen über Nachhaltigkeit im Tourismus der Wissenschaftler finden in einem sicheren Raum statt – im Gegensatz zu denen der Menschen, die im freien Markt ihr Geld verdienen müssen und denen momentan das Wasser bis zum Halse steht. Und das wird die Diskussion wahrscheinlich auf absehbare Zeit dominieren. Danach werden die verschiedenen Nachhaltigkeitsthemen aber sicher wieder aufs Tapet kommen.
Zukünftige Entwicklung gefährdet
Rechnen Sie mit einer Pleitewelle, möglicherweise im Jahr 2021?
Die Unternehmen werden in der Corona-Krise einem extremen Stresstest unterzogen. Kurzfristig müssen sie Liquidität, langfristig ihre Solvenz sichern. Kredite sichern zwar die Liquidität, haben aber das Potential, durch die Verschiebung der Kapitalzusammensetzung zu mehr Fremdkapital die Solvenz zu verschlechtern. Und dies alles bei weiterhin fehlenden oder nur schleppenden Einnahmen.
Klar wird es zu Konkursen kommen, aber ob es eine Pleitewelle geben wird oder ob es einzelne Betriebe treffen wird, kann ich nicht einschätzen. Derzeit schieben die Hilfsmaßnahmen für die wirtschaftlichen Ausfälle aufgrund von Sars-CoV-2 die mögliche Pleitewelle noch Richtung 2021. Maßnahmen wie Kurzarbeit und Direkthilfen für Selbstständige entlasten die Jahresrechnungen. Jedes Unternehmen, das liquide ist, wird die Zeit wohl erst mal überleben.
Das Problem ist aber, dass bei Unternehmen wie Beherbergung, Restaurants, Airlines und Bergbahnen die Gewinnmargen nicht sehr hoch sind. Das heißt, Liquidität und auch Reserven sind wahrscheinlich beschränkt – auch wenn Kredite diese Situation vorübergehend entschärfen. Doch wenn diese aufgebraucht sind, werden die Unternehmen wahrscheinlich aus dem Markt ausscheiden. Diese Folgen könnten sich 2021 verstärkt zeigen. Und selbst wenn Unternehmen überleben, gefährdet die Schuldenlast aus diesen durch Kredite finanzierten Liquiditätsreserven ihre zukünftige Entwicklung.