Sind Sex, Drugs und Rock ’n’ Roll noch zeitgemäß?
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Mick Jagger von den Rolling Stones bei einem Auftritt in São Paulo in Brasilien.
© Quelle: Sebastiao Moreira/dpa
Mick Jagger ist der Inbegriff des Rockfrontmanns – und auch dessen, was man damit verbindet: Sex, Drugs und Rock ’n’ Roll. Seit sechs Dekaden ist der Rolling-Stones-Musiker, der am Mittwoch 80 Jahre alt wurde, im Musikgeschäft. Seine Band hat Legendenstatus. Ähnlich umfangreich wie Jaggers musikalische Vita ist auch die Liste an Geschichten über Affären, Groupies, Drogeneskapaden. Das gehört eben zum Rockstarleben dazu, sagen manche. Für andere wird er dadurch gar zum Idol.
Die Frauengeschichten Jaggers sind so zahlreich, dass es schwer ist, überhaupt noch durchzusteigen. Mit mehr als 4000 Frauen soll er Sex gehabt haben, darunter zahlreiche Prominente. Die Zahl hat Carla Bruni-Sarkozy einmal in den Raum geworfen, die Ehefrau des französischen Ex‑Staatspräsidenten Nicolas Sarkozy, die Jagger einst seinem Rockkollegen Eric Clapton ausgespannt haben soll. „Ich war eine der 4000 anderen Frauen in seinem Leben. Er ist, glaube ich, wie Don Juan“, sagte sie. Zu den Geliebten sollen außerdem deutsche Groupies wie Uschi Obermaier und Anita Pallenberg gehört haben, ebenso Hollywoodprominenz – Tina Turner, Angelina Jolie, Madonna und Uma Thurman sind Namen, die immer wieder genannt werden.
Jagger hat acht Kinder, weitere Enkel und Urenkel
Der Sänger hat insgesamt acht Kinder und ist mittlerweile schon Urgroßvater. Während seiner zweiten Ehe mit Jerry Hall bekam das brasilianische Modell Luciana Morad ein Kind von ihm. Sein jüngster Sohn Deveraux ist erst sechs Jahre alt – und damit zwei Jahre jünger als einer seiner Urenkel. Mit der Mutter von Deveraux, der Choreografin Melanie Hamrick, ist Jagger seit 2014 liiert.
Grundsätzlich ist die Musikindustrie nach wie vor patriarchal geprägt und männlich dominiert.
Musiksoziologe Rainer Prokop von der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien
Für seine Musik mag man Mick Jagger lieben, doch für den Groupiesex – zum Teil unter Drogen – wird ihn doch heute, in Zeiten von #MeToo und einem steigenden Bewusstsein für den Umgang mit Machtgefällen, zumindest keiner mehr abfeiern. Oder? Der Musiksoziologe Rainer Prokop von der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien zeichnet ein noch nicht so fortschrittliches Lagebild der Branche. „Grundsätzlich ist die Musikindustrie nach wie vor patriarchal geprägt und männlich dominiert“, sagt er. „Das bedeutet, dass weiße heterosexuelle Männer wesentlich häufiger als Frauen in einflussreichen und statusbehafteten Positionen sind, wodurch ein strukturelles Machtgefälle entsteht, unter dem vorwiegend Frauen leiden. Dieses Machtgefälle ermöglicht es, dass es immer wieder neue Formen der Abwertung von Weiblichkeit gibt und Sexismus und Gewalt gegen Frauen normalisiert werden.“ Seitens der Entscheidungsträger in der Musikindustrie gibt es laut Prokop kaum aktive Anstrengungen, nachhaltige strukturelle Veränderungen voranzutreiben. An oberster Stelle stehe der Profit.
Vorwürfe gegen Till Lindemann lenken Aufmerksamkeit auf das Thema
Durch die Vorwürfe gegen Rammstein-Sänger Till Lindemann liegt gerade viel Aufmerksamkeit auf dem Thema. Immer wieder heißt es in dem Zusammenhang auch, dass sogenannte Row Zeros oder andere Arten, weibliche Fans den Stars für Sex zuzuführen, auch bei anderen Bands und Musikern üblich seien. Dass die Vorwürfe für viele überraschend sind, überrascht deshalb wiederum den Musikexperten Prokop. Er macht deutlich: „Sowohl die Rolling Stones als auch Rammstein sind prominente Beispiele für diese patriarchal geprägten Strukturen in der Musikindustrie und für Netzwerke von weißen, heterosexuellen Männern.“ Diese Netzwerke erlangten auf unterschiedlichen Ebenen Bedeutung – aber sie zeigten sich vor allem dann, wenn es darum gehe, sexuelle Gewalt gegen und Ausbeutung von Frauen zu tolerieren.
Über Mick Jagger äußerten sich auch Ex‑Frauen und Ex‑Geliebte nicht immer positiv. Seine frühere Frau Jerry Hall, mit der er von 1990 bis 1999 verheiratet war, schrieb in ihrem 2010 erschienenen Buch „Jerry Hall: My Life In Pictures“ auch über Jaggers Drogen- und Sexgewohnheiten. „Mick hat mir erzählt, dass er in den Sixties einmal ein Jahr lang jeden Tag LSD genommen hat“, heißt es da etwa. Mick Jagger gab in der Vergangenheit selbst zu, viele Songs unter Drogeneinfluss geschrieben zu haben. 1967 wurden Jagger und Bandkollege Keith Richards zudem wegen Drogenbesitzes zu mehrmonatigen Haftstrafen verurteilt, am Ende kamen sie mit Geldstrafen davon. Heute sieht die Rocklegende die Drogenexzesse seiner jungen Jahre kritisch.
Er war ein gefährliches sexuelles Raubtier, ich fühlte mich bei ihm nie sicher.
Jerry Hall,
Ex-Frau von Mick Jagger, in ihrem Buch „Jerry Hall: My Life In Pictures“
Hall habe ihm damals gesagt, sie ertrage ihn nicht auf Droge – er solle wiederkommen, wenn er clean sei. Das habe er geschafft. Doch habe er, so Hall in dem Buch, seine Sucht später durch Affären kompensiert. „Er war ein gefährliches sexuelles Raubtier, ich fühlte mich bei ihm nie sicher“, schreibt sie.
Musikjournalisten als Teil des patriarchalischen Systems
Als einen wesentlichen Faktor, warum die Entstehung und Verfestigung solch patriarchaler Strukturen in der Musikbranche überhaupt möglich waren, nennt Prokop neben Musikern und anderen männlichen Netzwerken in der Musikindustrie auch weiße, männliche Musikjournalisten. Sie hatten ihm zufolge zumindest bis zum Aufstieg der sozialen Medien und digitaler Musikempfehlungssysteme die Deutungshoheit darüber, wer gute Musik mache und zum Star werde. „Diese Musikjournalisten haben seit den 1950er-Jahren auch ihre Geschichten über Groupies, also Frauen rund um Bands oder Musiker, geschrieben. Es waren fast nur Männer, die das Phänomen des Groupietums geformt und befördert haben, und sie tun dies bis heute. Der Blick für Unterdrückung und sexuelle Ausbeutung von Frauen in der Rock- und Popmusik, aber auch in der klassischen Musik, und für Strukturen, die Sexismus und sexualisierte, rassistische, homo- und transphobe Gewalt fördern, war historisch betrachtet weitgehend abwesend.“
Frauen werden häufig immer noch auf unterstützende Rollen und auf die Publikumsposition verwiesen, wie es historisch gesehen schon immer der Fall war. Hierzu gehören auch Phänomene wie das Groupietum.
Musiksoziologe Rainer Prokop
Seit Mitte der Nullerjahre gestaltete sich durch den Aufstieg der sozialen Medien und neue Formen des Musikhörens der Musikkonsum wesentlich individualisierter, so Prokop. Dadurch habe der Einfluss von Musikjournalisten und Printmedien abgenommen. An etablierten weiblichen Rollenbildern habe sich dennoch nicht viel geändert. „Frauen werden häufig immer noch auf unterstützende Rollen und auf die Publikumsposition verwiesen, wie es historisch gesehen schon immer der Fall war. Hierzu gehören auch Phänomene wie das Groupietum.“
Weibliche Musikfans veränderten sich
Dabei unterschieden sich etwa die Groupies der 1970er-Jahre schon von heutigen weiblichen Musikfans, meint Prokop. „Wir leben heute nicht mehr in einer Gesellschaft wie beispielsweise in den 70er-Jahren, als junge Frauen Bands wie die Rolling Stones für sich nutzten, um aus den etablierten Normen und Werten der bürgerlichen Gesellschaft wie etwa der bürgerlichen Sexualmoral auszubrechen.“ Heute hätten viele Frauen ohnehin den Eindruck, frei, autonom und gleichberechtigt zu sein. „Das könnte auch erklären, warum die Vorwürfe gegen Rammstein für junge Frauen, vor allem jene, die weiß und heterosexuell sind, irritierend sein können.“ Rammstein sei dabei nur ein prominentes Beispiel, sagt der Musiksoziologe.
Er betont außerdem, es sei insbesondere vielen jüngeren Frauen durch #MeToo klar geworden, dass es sich hinsichtlich Sexismus, sexueller Belästigung und sexualisierter Gewalt um strukturelle Probleme und nicht um Einzelfälle handle. „Es wird aber auch deutlich, dass bei jüngeren, weißen, heterosexuellen Männern und auch Musikern noch immer ein patriarchales Verständnis von Musikertum vorherrscht.“ Gleichzeitig verweist Prokop auf Künstler, die dem entgegenstehen, wie etwa Harry Styles, der zwar eine weiße männliche Popfigur sei, aber mit dem althergebrachten Männerbild breche – nicht zuletzt, weil er sich an Posen und Sujets der männlichen homosexuellen Kultur bediene.
Sex, Drugs und Rock ’n’ Roll – das ist immer noch ein Lebensstil von (Rock-)Stars, der von vielen in der Branche nicht infrage gestellt wird. Gleichzeitig steigt das gesellschaftliche Bewusstsein dafür, dass dies oft mit der Ausnutzung von Machtstrukturen einhergeht. Aber das Bewusstsein allein reiche nicht, so Musiksoziologe Prokop: „Das Bewusstsein für Machtverhältnisse und wie sie sich auswirken können ist auf jeden Fall gestiegen, aber Bewusstsein allein ist zu wenig. Veränderung muss auch auf allen strukturellen Ebenen der Musikindustrie stattfinden.“ Solange das nicht passiere, werde es auch weiterhin möglich sein, dass Stars wie Mick Jagger auch für ihren Umgang mit Frauen unhinterfragt gefeiert werden.
mit dpa-Material