Boris Becker: ein Interview von Leben und Tod
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Faltig, kantig, schmaler und mit dunklerem Haar präsentierte sich Boris Becker am Dienstagabend nach seiner Haftstrafe der Öffentlichkeit.
© Quelle: IMAGO/Sven Simon
Das ehrlichste Interview im Leben des Boris Becker sollte es werden. Fast zweieinhalb Stunden blockte Sat.1 dafür in der Prime-Time. Boris Becker spricht darüber, wie er sich vor Gefängniswächtern ausziehen musste. Wie das Verhältnis zu seinen Kindern während seiner Haftzeit intensiver wurde. Wie er zu seinen Ex-Frauen steht. Dass er sich ein paar Kinder mit Freundin Lilian de Carvalho Monteiro wünscht. Dass er gerne wiederkommt, um Steven Gätjen von seinen Plänen zu berichten.
Und dann erzählt er plötzlich, dass er Deutschland verlassen will, weil er sein Privatleben schützen will, weil er seine Privatsphäre schätzt. Das Private soll privat bleiben. Man sitzt als Zuschauerin und Zuschauer da und kann doch einfach nur den Kopf schütteln.
Becker: Öffentliches Schuldbekenntnis im Interview
Tennis-Star Boris Becker hat sich nach seiner Haftentlassung öffentlich zu seiner Schuld bekannt.
© Quelle: dpa
Boris Becker im Gefängnis: „Es ging ums nackte Überleben“
Das lange Fernsehinterview war für das Publikum eine Herausforderung. Zum einen, weil Boris Becker kein guter Erzähler ist. Zum anderen, weil seine Überdramatisierung von Beginn an zu offensichtlich ist. Die Anwälte hätten alles getan, „um mein Leben zu retten“, sagt er, später waren es drei Mithäftlinge, die sich seiner annahmen und „mein Leben gerettet haben“. Noch sechsmal wird es an diesem Abend um „Leben und Tod“, „ums nackte Überleben“ gehen. Er erzählt, wie ein Mithäftling ihn habe umbringen wollen – eine reale physische Bedrohung gab es dabei aber nicht.
Angesichts dessen, was Becker sonst so aus den beiden Haftanstalten erzählt, scheinen diese zwar alles andere als hyggelige Wohlfühlorte zu sein, aber eben auch kein grundsätzlicher Ort zum Sterben. So wundert es auch nicht, dass sich viele TV-Zuschauerinnen und TV-Zuschauer in den sozialen Medien über seinen Kriegsvergleich echauffierten: Der Zusammenhalt der Häftlinge, sagt er da, sei gewesen wie bei Soldaten im Krieg.
Viele Widersprüche in Boris Beckers Erzählungen
Sein Verhältnis zu den anderen Häftlingen scheint etwas zwiegespalten. Er berichtet von „extrem gefährlichen“ Situationen, weil er mit Mördern und Kinderschändern wenige Stunden in großen Zellen verbringen musste. Von der Angst, dass andere ihre Nerven verlieren könnten, ihn angreifen und bedrohen könnten. Von der Angst, in der Dusche vergewaltigt zu werden. Von der Angst, in der Essensschlange zu stehen, weil hinter ihm jemand ein Messer haben könnte. Davor, erpresst worden zu sein – mit Halsabschneidergeste. Von Häftlingen, die sich gegenseitig umbringen wollten. Von Mithäftlingen, die sich „als sehr gefährlich entpuppt“ haben. Davon, dass er einen besonderen Schutz genießen durfte, weil die Gefängnisleitung Angst hatte, dass ihm etwas passiere. Aber eben auch von einem Zusammenhalt wie in Kriegszeiten, von Überlebenshilfen.
Manch ein Satz lässt sich mit Vorurteilen erklären, damit, dass es überall Gruppenbildung, Gruppendynamik und Einzelkämpfer gibt. Manchmal muss man ihm zugute halten, dass er im Kopf wohl eher Englisch als Deutsch spricht, etwa, wenn er seine Rückreise im Privatflieger nach acht statt 30 Monaten Haft antritt und den Begriff Deportation dafür verwendet.
Boris Becker im Gefängnis: getrieben von der Angst oder doch berechnende Abrechnung?
Oftmals aber bleibt zumindest das Gefühl, dass Becker vielleicht doch nicht ganz so ehrlich ist, vielleicht doch ein wenig – oder ein wenig mehr – übertreibt, überdramatisiert, hochspielt. Im besten Falle gesteht man ihm zu, von seiner unreflektierten Angst vor der Haft getrieben worden zu sein. Andernfalls könnte man aber auch davon ausgehen, dass er in fast 40 Jahren Öffentlichkeit gelernt hat, was die Leute hören wollen, was sich gut verkauft. Für Letzteres spricht, dass seine Anwälte via „Bild“-Zeitung schon angekündigt hatten, dass die Erlebnisse ein juristisches Nachspiel hätten.
Ein Vorwurf, den die Öffentlichkeit Boris Becker in den vergangenen Jahren immer wieder machte, war, dass er den Bezug zur Realität verloren habe. Nun gibt er sich geläutert und demütigt – Worte, die er selbst nutzt. Doch im Gespräch ist davon wenig zu spüren. Er erzählt, dass er zum ersten Mal in seinem Leben Hunger erlebt habe. Ja, wahrscheinlich ist er hungrig ins Bett gegangen. Aber er bekam zweimal am Tag Mahlzeiten – im Gegensatz zu Menschen, die tatsächlich Hunger leiden.
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Fast zweieinhalb Stunden lang dauerte das Interview von Steven Gätjen mit Boris Becker.
© Quelle: Nadine Rupp/SAT.1/dpa
Es gab die ehrlichen, authentischen, aufrichtigen Momente
Vielleicht lässt sich die Diskrepanz seiner Worte und seiner eigentlichen Denkweise am ehesten damit beschreiben, dass er einen Promibonus vehement bestritten hatte. Gleichzeitig klagte er aber schon zu Beginn, dass die Hälfte der Jury in seinem Gerichtsprozess jünger als 30 Jahre gewesen sei. „Die kannten Boris Becker nicht, die wussten nicht, was ich erreicht habe.“ Er wollte nicht auffallen, betonte er immer wieder. Gleichsam geht es dann eben doch häufig um Boris Becker, den Ex-Tennisspieler.
Aber es gab auch Lichtblicke im Interview. Die Momente, in denen Boris Becker ernsthaft wirkte, ehrlich, authentisch. In denen er nicht gekünstelt nach Fassung ringen musste, sondern aufrichtig mitgenommen wirkte. Etwa, als er beschrieb, wie es sich anfühlte, als die Zellentür zum ersten Mal hinter ihm geschlossen wurde. Der einsamste Moment, den er in seinem Leben je hatte, sei das gewesen. „Ich hatte mir einige Bücher gekauft. Ich habe angefangen zu lesen, aber du verstehst nichts, weil du dich nicht konzentrieren kannst.“
TV-Interview, Streaming-Doku - die Vermarktung der Haft hat längst begonnen
Können wir ihm glauben, dass die Inhaftierung ihn verändert hat? Dass die Zeit prägend, intensiv, unschön, angstbehaftet, erschreckend und vielleicht gar traumatisierend war? Definitiv. Freiwillig würde man nicht mit ihm tauschen wollen.
Aber hat er wirklich dazugelernt? Wird er die zweite Chance auf ein ruhigeres Leben nutzen? Wird er es schaffen, seinen neuen Lebensmut mit in die Freiheit zu nehmen? Daran dürfen wir zumindest zweifeln. Fünf Tage nach der Freilassung das große Interview, die Tränen in der Apple-TV-Dokumentation über seine Haft sind schon in Trailern zu sehen. Fehlt nur die Buchankündigung zur perfekten Vermarktung von acht Monaten Knast.