Wie soll ich meinem Kind von Auschwitz erzählen?

Der Besuch von Gedenkstätten ist wichtig: Ein Foto im Museum Auschwitz-Birkenau zeigt gefangene Kinder.

Der Besuch von Gedenkstätten ist wichtig: Ein Foto im Museum Auschwitz-Birkenau zeigt gefangene Kinder.

Warum ist die Auseinandersetzung mit dem Holocaust gerade heute wichtig für Kinder und Jugendliche?

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Der Holocaust ist ein wichtiger Teil unserer Geschichte, und zwar einer, der uns bis heute prägt. Die Bundesrepublik und ihre freiheitlich-demokratische Ordnung entstanden ja direkt vor dem Hintergrund der Erfahrungen aus dem Nationalsozialismus. Diese geschichtliche Dimension ist aber nur ein Teil der Begründung für die Beschäftigung heute. Genauso wichtig ist die Prävention gegen Populismus und Rassismus. Es ist ganz wichtig, unseren Kindern schon früh zu vermitteln, wohin diese Haltungen genau führen können. Durch die Auseinandersetzung mit den Verbrechen des Nationalsozialismus sensibilisieren wir sie auch für die aktuellen Gefahren und ermutigen sie zum Widerstand gegen Rassismus und zum rechtzeitigen „Nein“-Sagen.

Ab welchem Alter ist eine Auseinandersetzung mit dem Holocaust sinnvoll?

Mit einer generellen Altersempfehlung tue ich mich schwer. Es hängt stark vom einzelnen Kind und seiner Erfahrungswelt ab. Prinzipiell aber kann die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus schon in der Grundschule Sinn machen. Gerade weil Kinder auch schon in diesem Alter durchaus erste Erfahrungen mit Rassismus machen oder Hakenkreuz-Schmierereien oder Ähnlichem begegnen. Das wirft Fragen bei ihnen auf, die wir nicht ignorieren dürfen. Für passende Antworten gibt es inzwischen eine Vielzahl von Projekten, Ansätzen und Medien.

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„Empathie für die Opfer zu entwickeln, ist ein zentraler Punkt der Bildungsarbeit“, sagt Sascha Feuchert. Er ist Professor für Neuere deutsche Literatur mit dem Schwerpunkt Holocaust- und Lagerliteratur und ihre Didaktik am Institut für Germanistik der Universität Gießen und Leiter der Arbeitsstelle Holocaustliteratur.

„Empathie für die Opfer zu entwickeln, ist ein zentraler Punkt der Bildungsarbeit“, sagt Sascha Feuchert. Er ist Professor für Neuere deutsche Literatur mit dem Schwerpunkt Holocaust- und Lagerliteratur und ihre Didaktik am Institut für Germanistik der Universität Gießen und Leiter der Arbeitsstelle Holocaustliteratur.

Eltern können die Auseinandersetzung anregen, in dem sie zum Beispiel mit ihren Kindern „Der Krieg und ich“ oder auch den neuen Kinofilm „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“ schauen oder entsprechende Bücher lesen.

Können Sie Beispiele nennen?

Es gibt etwa für Kinder ab 8 Jahren das Buch „Der überaus starke Willibald“ von Willi Fährmann. Hier wird der Nationalsozialismus sehr gelungen und kindgerecht in eine Mäusefabel übersetzt. Sehr empfehlenswert ist auch die Sendereihe des Kinderkanals und des SWR „Der Krieg und ich“. In acht Folgen, die weiterhin in den Mediatheken abrufbar sind, wird aus der Sicht von Kindern über den Krieg und den Holocaust erzählt, und zwar ebenfalls für Zuschauer ab acht Jahren. Das sind herausfordernde Geschichten, die die Kinder trotzdem nicht überfordern.

Welche Rolle spielt das Elternhaus bei der Auseinandersetzung?

Eltern können die Auseinandersetzung anregen, indem sie zum Beispiel mit ihren Kindern „Der Krieg und ich“ oder auch den neuen Kinofilm „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“ schauen oder entsprechende Bücher lesen. Dabei ist die Begleitung durch die Eltern gerade bei jungen Kindern sehr wichtig. Ich darf mein Kind nicht einfach mit diesen teils verstörenden Informationen alleine lassen, sondern muss mit ihm darüber sprechen und das Gesehene oder Gelesene einordnen. Natürlich tragen die Eltern nur einen Teil der Verantwortung. Auch die Schule spielt bei der Auseinandersetzung mit dem Holocaust natürlich eine sehr wichtige Rolle.

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Ich darf mein Kind nicht einfach mit diesen teils verstörenden Informationen alleine lassen, sondern muss mit ihm darüber sprechen und das Gesehene oder Gelesene einordnen.

Sascha Feuchert, Professor für Neuere deutsche Literatur mit dem Schwerpunkt Holocaust- und Lagerliteratur und ihre Didaktik am Institut für Germanistik der JLU Gießen und Leiter der Arbeitsstelle Holocaustliteratur.

Wo können sich Eltern „Unterstützung“ für die Begegnung mit dem Thema holen?

Es gibt viele tolle Angebote für Eltern. Zur erwähnten Serie „Der Krieg und ich“ stellt das SWR-Kindernetz sehr gute Materialien bereit, die Kindern das Verständnis und Eltern die Erklärung der Ereignisse erleichtern. Außerdem gibt es natürlich sehr viele spannende Kinder- und Jugendbücher zu dem Thema, die Eltern gemeinsam mit ihren Kindern lesen können. Ein sehr gelungenes Buch für etwas ältere Kinder ist Annette Wieviorkas „Mama, was ist Auschwitz?“. Und die Holocaust-Überlebende Hedi Fried hat erst kürzlich einen Band vorgelegt, in dem sie typische Fragen beantwortet, die ihr Kinder und junge Erwachsenen bei ihren vielen Zeitzeugengesprächen gestellt haben. Auch Beratungsstellen wie die Arbeitsstelle Holocaustliteratur helfen Eltern natürlich gerne weiter.

Manche Schüler sind regelrecht ermüdet von dem Thema Nationalsozialismus. Wo sehen Sie Nachholbedarf in der schulischen Auseinandersetzung?

Dem „Übersättigungsgefühl“ zum Trotz, ist das Wissen der heutigen Jugendlichen und jungen Erwachsenen über den Holocaust erschreckend gering, das weisen aktuelle Studien sehr eindeutig nach. Damit ist auch klar, dass es bei der schulischen Erinnerungsarbeit durchaus Nachholbedarf gibt. Die Auseinandersetzung mit Zahlen und Fakten kann dabei immer nur ein Teil des Unterrichts sein, wichtig scheint mir auch der Blick auf Einzelschicksale und die Verbindung zur eigenen Lebenswirklichkeit der Schülerinnen und Schüler zu sein.

Dem „Übersättigungsgefühl“ zum Trotz, ist das Wissen der heutigen Jugendlichen und jungen Erwachsenen über den Holocaust erschreckend gering.

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Was könnte man im Unterricht ändern?

Es braucht eine fächerübergreifende Auseinandersetzung, die nicht nur auf den Geschichtsunterricht beschränkt bleibt. Gerade im Hauptfach Deutsch gibt es viele Möglichkeiten, sich mit den Erzählungen über Einzelschicksale zu beschäftigen und damit das Geschichtsbewusstsein noch einmal anders zu stärken.

Warum eignet sich das Beispiel Auschwitz für eine Auseinandersetzung mit Einzelschicksalen?

Auschwitz ist in vielerlei Hinsicht zentral für die Geschichte des Holocaust. Es war Konzentrations- und Vernichtungslager zugleich, es war das Mordzentrum des Nationalsozialismus. Es gibt viele Berichte von Überlebenden, die einen sehr eindrücklichen Einblick in den schrecklichen Lageralltag liefern, dazu kommen gerade aktuell einige Romane, die versuchen, über Auschwitz fiktional zu erzählen. Aus der Fokussierung auf Auschwitz ergeben sich aber auch Probleme. Zum Beispiel kommen in der Schule die zahlreichen Berichte aus den Ghettos in Warschau oder Lodz kaum vor. Dabei sind auch dort zigtausende Menschen gestorben. Auch über ihre Schicksale sollte nicht nur in der Schule erzählt werden.

Ist das „Greifbarmachen“ durch den Kontakt mit den Orten und Menschen der Königsweg der Vermittlung?

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Ich würde es nicht als Königsweg bezeichnen. Es gibt sicher viele gleichwertige individuelle Zugänge. Manche Menschen brauchen eine Gedenkstätte wie Auschwitz mit den vielen eindrücklichen Zeitdokumenten, um die Ausmaße des Holocaust zu verstehen. Aber dieses Verstehen kann sich auch durch eine gute Dokumentation oder die Berichte von Überlebenden einstellen. Egal welchen Weg der Vermittlung wir wählen, es sollte dabei immer auch um konkrete Menschen und ihr Schicksal gehen: Diese Verbrechen sind Menschen widerfahren, diese Verbrechen wurden von Menschen begangen. Der Holocaust war kein Naturereignis, sondern das Ergebnis vieler menschlicher Entscheidungen und Handlungen. Die Beschäftigung mit individuellen Lebensläufen macht das historische Geschehen für Kinder und Jugendliche greifbarer.

Wer einmal wirklich verstanden hat, was den Menschen in Auschwitz, dem Warschauer Ghetto und an allen den anderen Schauplätzen des Holocaust widerfahren ist, wird für rechte Parolen ein Stück weit immun. Jedenfalls ist das meine große Hoffnung.

Was halten Sie von einem verpflichtenden Besuch von Gedenkstätten für Schülerinnen und Schüler?

Ich bin kein Freund von Zwangspädagogik. Statt einer Pflicht würde es mir schon reichen, wenn alle die Kinder und Jugendlichen die Chance bekommen, eine Gedenkstätte zu besuchen, die das wollen. Aber um das wirklich zu ermöglichen, müsste die Politik einiges an Weichenstellungen vornehmen. Damit solche Fahrten wirklich Sinn ergeben – das ist meine Erfahrung aus vielen Gedenkstättenseminaren mit Jugendlichen, die ich geleitet habe –, müssen sie länger als einen Tag dauern und es braucht unbedingt eine gute Vor- und Nachbereitung. Von Eintagesfahrten halte ich wenig. Nur bei einer gewissen Länge und mit einer intensiven Begleitung werden sie nachhaltige Wirkung für die Schülerinnen und Schüler haben.

Sind Begreifen und Fühlen die beste Prävention gegen rechtes Gedankengut?

Ja, Empathie für die Opfer zu entwickeln ist ein zentraler Punkt der Bildungsarbeit. Wer einmal wirklich verstanden hat, was den Menschen in Auschwitz, dem Warschauer Ghetto und an allen den anderen Schauplätzen des Holocaust widerfahren ist, wird für rechte Parolen ein Stück weit immun. Jedenfalls ist das meine große Hoffnung.

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