Diskussion um Uranembargo

„Und dann wird’s dunkel“: Wie groß ist Europas Abhängigkeit von russischer Nukleartechnologie?

Ein Mitarbeiter inspiziert den Generatorsektor des bulgarischen Kernkraftwerks in der Stadt Kozludui, etwa 200 Kilometer von der Hauptstadt Sofia entfernt (Archivbild).

Ein Mitarbeiter inspiziert den Generatorsektor des bulgarischen Kernkraftwerks in der Stadt Kozludui, etwa 200 Kilometer von der Hauptstadt Sofia entfernt (Archivbild).

Moskau. In seinem Technikthriller „Blackout – Morgen ist es zu spät“ malte der österreichische Bestsellerautor Marc Elsberg 2012 aus, was es bedeuten würde, wenn in Europa großflächig die Stromversorgung ausfiele: Von einer Sekunde auf die andere würde es dunkel werden. Züge blieben stehen, sehr schnell wäre es nicht mehr möglich zu telefonieren oder anderweitige Kommunikationsmittel zu nutzen, Fernseher verstummten, Computernetzwerke versagten, Ampeln funktionieren nicht mehr. Ohne Elektroherd, Kühlschrank und Gefriertruhe wären die heimischen Küchen nicht mehr zu gebrauchen. Wenig später käme kein Wasser mehr aus den Leitungen, und das Versagen der Klospülung würde das Leben sehr unangenehm machen. Tankstellen könnten das Benzin nicht mehr bis zum Zapfhahn pumpen und Lebensmittel nicht mehr ausgeliefert werden. Die Städte versänken in Müll und Gestank und schließlich in Anarchie.

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Glücklicherweise ist Elsbergs Buch bislang eine Dystopie geblieben und nicht zur Wirklichkeit geworden, obwohl der 55-jährige Wiener intensiv recherchierte, um in „Blackout“ nicht nur eine fiktive, sondern eine reale Gefahr darzustellen.

Die aktuelle Konfrontation zwischen Russland und der EU könnte bei einer weiteren Eskalation nun aber womöglich tatsächlich zu einem Stromausfall in Mitteleuropa führen, mit der Gefahr einer Ausbreitung Richtung Westen. Denn einige Länder dieser Region erzeugen einen hohen Anteil ihres Stroms mit Kernkraftwerken russischer Bauart. Nach einem Bericht der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEA) von 2021 bestreitet Bulgarien 40,8 Prozent seiner gesamten Stromerzeugung mit Kernenergie, in der Tschechischen Republik sind es 37,3, in Finnland 33,9, in Ungarn 48 und in der Slowakei sogar 53,1 Prozent, so gut wie immer ist russische Technologie im Spiel.

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Europa wegen gemeinsamen Stromnetzes anfälliger

Das bedeutet, dass diese Länder bei ihrer Stromerzeugung in hohem Maße auf die Belieferung angereicherten Urans und Kernkrafttechnologie aus Russland angewiesen sind – jenem Land also, das vom Westen inzwischen schwer sanktioniert wird, und das zu Gegensanktionen greifen könnte: „Wenn dort die großen Erzeugungskapazitäten ausfallen“, sagt der Energieexperte Andreas Fischer vom Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) im Gespräch mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND), „habe ich schlicht an manchen Ecken keinen Strom mehr im Netz, und dann wird’s dunkel.“

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Da immer die gleiche Versorgung im Netz erforderlich sei, also so viel wie nachgefragt werde, müsse auch ins Netz reinkommen, bestünde zumindest kurzfristig die Gefahr, dass weite Teile des europäischen Stromnetzes in die Knie gehen könnten, wenn große Anteile der Erzeugung an irgendeinem Punkt wegbrächen. „Da wir das ganze Stromnetz in Europa zusammengeschlossen haben, sind wir einerseits anfälliger, wenn es in einem Land zu einem Blackout kommt“, verdeutlicht Fischer, „andererseits ist es auch leichter, durch einen Austausch zu intervenieren. Ein europaweiter Stromausfall ist daher im schlimmsten Fall wohl nur kurzfristig zu erwarten.“

Diskussion über Uranembargo wird in Russland aufmerksam verfolgt

In den vorrangig betroffenen Ländern ist allerdings Nervosität spürbar: Als sich Michael Clauß, der deutsche Botschafter bei der EU, Ende April hinter einen Vorstoß Polens und der baltischen Länder stellte, nicht nur die EU-weite Einfuhr russischen Gases und Erdöls zu boykottieren, sondern auch von russischem Uran, fand das etwa die Slowakei nach einem Bericht der US-Tageszeitung „Politico“ gar nicht lustig: „Dies ist sehr besorgniserregend, da wir zu 100 Prozent von den russischen Kernbrennstofflieferungen der Firma TVEL abhängig sind“, sagte der slowakische Energiestaatssekretär Karol Galek dem einflussreichen Blatt.

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In Russland wird die Diskussion, die in Brüssel über ein mögliches Uranembargo geführt wird, aufmerksam zur Kenntnis genommen. Das kremlnahe Nachrichtenportal „Wsgljad“ („Ausblick“) gab den „Politico“-Artikel ausführlich wieder, ebenso wie einen Bericht des deutschen Nachrichtensenders N-TV, in dem vor der großen Abhängigkeit der EU von russischem Uran gewarnt wird. Und das mit realem Hintergrund: Kurz zuvor hatte die Brüsseler Denkfabrik Bruegel bei Twitter darauf hingewiesen, dass Russland weltweit der größte Exporteur nuklearer Technologien und angereicherten Urans sei.

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Was das bedeutet, erläuterte der russische Experte Sergej Kontratjew vom Moskauer Institut für Energie und Finanzen bei „Wsgljad“ in aller Grundsätzlichkeit: „Der Markt für friedliche Kernenergie“, schreibt er, „teilt sich auf in Reaktoren westlicher und sowjetischer beziehungsweise russischer Bauart. Die Brennstäbe, die in den Reaktoren verwendet werden, haben unterschiedliche geometrische Formen: In Russland ist es ein Sechseck, in westlichen Ländern ein Tetraeder.“

„Könnte für die EU tragisch enden“

Auf den ersten Blick erscheine es ohne Weiteres machbar zu sein, statt eines Tetraeders einfach ein Sechseck herzustellen, schreibt Kontratjew weiter. Tatsächlich sei eine solche Umstellung allerdings mit vielen technologischen Hürden verbunden, wie etwa der Atomkraftwerkshersteller Westinghouse habe lernen müssen. Die Amerikaner hätten seit vielen Jahren ernsthafte Bemühungen unternommen, den Markt für Brennstäbe in Osteuropa für sich zu erschließen – mit bislang bescheidenem Erfolg. Selbst die Ukraine, die dafür sehr offen gewesen sei und Westinghouse ihre Reaktoren für entsprechende Versuche zur Verfügung gestellt habe, sei zwischenzeitlich von ihrem Umstellungsvorhaben abgerückt – wegen ernsthafter Sicherheitsbedenken. Erst nach der Annexion der Krim im Jahr 2014 habe sich das Land endgültig von der Belieferung durch die Russen abgewandt.

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Ob Länder wie Bulgarien, Ungarn oder Tschechien dieselben Sicherheitsrisiken eingehen würden, um auf westliche Nuklearbrennstoffe umzurüsten, sei allerdings sehr fraglich. Noch hätten die meisten Länder Vorräte an russischen Brennstäben, für etwa ein, zwei Jahre. „Danach wäre es aber absehbar“, so Kontratjew, „dass es bei einem Boykott zu einer schrittweisen Abschaltung dieser Anlagen und zu einer schweren Energiekrise kommen würde. Die Tschechische Republik und Bulgarien würden es besonders schwer haben. Wenn das Embargo lange andauert, werden diese Länder ihre Kernreaktoren stilllegen müssen.

Das sei auch deswegen so, schreibt der Experte weiter, weil etwa Westinghouse auch bei einer erfolgreichen Umstellung auf westliche Technologie nicht die Produktionskapazitäten habe, um nukleare Brennstoffe aus Russland in kurzer Zeit komplett zu ersetzen. Wenn ein so großes Uranerzeugerland wie Russland boykottiert würde, hätte das zudem unweigerlich eine erhebliche Erhöhung des Uranpreises zur Folge, um das Zwei- oder Mehrfache. Das könne wiederum dazu führen, dass Kernkraft durch Öl oder Gas substituiert werden müsse, was zu Preiserhöhungen auf den ohnehin schon angespannten Märkten für fossile Energieträger führen würde. „Kurzum“, schließt Kontratjew, „die Blockade von Energiezulieferungen, egal welcher Form, könnte für die EU tragisch enden.“ Ist die düstere Prognose als politisches Warnsignal zu verstehen oder hat sie einen realen Hintergrund? „Beides“, antwortet IAEA-Experte Hans-Holger Rogner auf Anfrage des RND.

Uranembargo bislang kaum öffentlich diskutiert

In Deutschland hat sich diese Erkenntnis zumindest in Bezug auf die starke Abhängigkeit von russischem Gas inzwischen weitgehend durchgesetzt. Es wird nun nach einer mittelfristigen Lösung gesucht, nachdem die Rufe nach einem schnellen Boykott russischen Erdgases zunächst recht laut waren. Über die Verhängung eines Uranembargos gegen Russland wurde im Westen hingegen bis jetzt praktisch gar nicht öffentlich diskutiert. Das hängt nach Meinung von IW-Experte Fischer vor allem damit zusammen, dass die Einnahmeverluste, die Russland durch ausfallende Exporte von fossilen Energieträgern hinnehmen müsste, deutlich höher sind als die Erlöse durch die wegbleibende Ausfuhr nuklearer Brennstoffe und Technologie.

So überwies die EU nach Angaben des finnischen Centre for Research on Energy and Clean Air (Crea) allein in den ersten zwei Monaten nach Beginn der Kampfhandlungen in der Ukraine 44 Milliarden Euro an Russland, um für Öl-, Gas- und Kohlelieferungen zu bezahlen. Im Vergleich dazu nehmen sich die 2,8 Milliarden Euro gering aus, die Russland nach Berechnungen der Informationsvisualisierungsseite OEC mit dem weltweiten Export nuklearer Güter im gesamten Jahr 2019 erwirtschaftete.

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Russland will nicht als unsicherer Lieferant dastehen

Das bedeutet allerdings auch, dass der Kreml nur geringe Einnahmeausfälle verkraften müsste, wenn er nun seinerseits westliche Länder bei der Belieferung von angereichertem Uran sowie Nukleartechnologie sanktionieren würde – mit den womöglich gravierenden Folgen eines Stromengpasses. Dass es dazu kommt, hält Bruegel-Experte Niclas Poitiers im Gespräch mit dem RND allerdings nicht für wahrscheinlich: „Es wurde viel darüber geredet, dass Russland Öl und Gas abdrehen könnte, und da besteht tatsächlich eine kurzfristige Gefahr: Wenn sie es heute machen, haben wir morgen ein Problem. Wenn sie heute aber keine nuklearen Güter mehr liefern, haben wir aufgrund der bestehenden Reserven von russischen Brennstäben erst in einigen Jahren Schwierigkeiten, und das auch nur, wenn bis dahin keine anderweitige Lösung gefunden wurde. Das heißt, der Effekt wäre in jedem Fall weniger sofortig.“

ARCHIV - 28.02.2022, Mecklenburg-Vorpommern, Lubmin: Blick auf Rohrsysteme und Absperrvorrichtungen in der Gasempfangsstation der Ostseepipeline Nord Stream 1. In Autos, Maschinen oder Medikamenten «Made in Germany» stecken Rohstoffe und Vorprodukte aus der ganzen Welt. Wie problematisch die Abhängigkeit von einzelnen Lieferländern sei kann, zeigt sich nicht erst seit dem Ukraine-Krieg. (zu dpa "Lithium aus Chile, Gas aus Russland - Die Abhängigkeit vom Ausland") Foto: Stefan Sauer/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

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Es komme hinzu, dass Russland kein Interesse habe, bei Nukleartechnologie als unsicherer Lieferant dazustehen, glaubt Poitiers: „Das ist eine der wenigen Produktionstechnologien, bei der Russland weltweit wettbewerbsfähig ist. Wenn nun China oder Indien mitbekommen, dass der Kreml die Abhängigkeit von ihr aus politischen Gründen ausnützt, dann werden sich diese Länder sehr gut überlegen, ob sie diese Anlagen noch einkaufen. Denn auf Dauer gibt es da Alternativen.“

Gleichwohl warnt der Handelsexperte vor der signifikanten Abhängigkeit der EU von russischer Nukleartechnologie, die vermindert werden sollte. In einem kürzlichen Blog-Eintrag weist er zusammen mit weiteren Bruegel-Forschenden auch auf die große Bedeutung Russlands als weltweiter Exporteur von Metallen wie Roheisen, Nickel, Palladium, Aluminium und Titan hin, die für die industrielle Wertschöpfung des Westens von großer Bedeutung sind: „Mittelfristig sollte die EU versuchen, die Einfuhren russischer Rohstoffe zu ersetzen“, schlussfolgern die Autoren des Postings lakonisch.

Es kommt da wohl noch einiges auf Europa zu.

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