Wie eine Wahl in Thüringen die Republik in die Krise stürzte
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Eine Frau mit einem Schild „Schämt euch“ demonstriert gegen die Wahl Kemmerichs zum Ministerpräsidenten von Thüringen.
© Quelle: Martin Schutt/dpa-Zentralbild/dp
Berlin/Erfurt/Pretoria. Es dauert etwa 24 Stunden, dann dreht sich in Thüringen doch wieder alles. In der Staatskanzlei in Erfurt stellt sich Thomas Kemmerich vor eine blaue Stellwand. Seit einem Tag ist der FDP-Mann und Friseurkettengründer Hausherr hier, als Ministerpräsident von Thüringen, überraschend gewählt mit einer Stimme Mehrheit.
Er ist der erste FDP-Ministerpräsident seit Jahrzehnten, aber vor allem der erste, der ohne die Unterstützung der AfD nicht ins Amt gekommen wäre.
Alles wankt
In diesen 24 Stunden ist ein Sturm über Thüringen gefegt, der so heftig war, dass viel zu wanken begann: die Groko in Berlin, der FDP-Vorsitzende Christian Lindner. CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer berief Krisensitzungen ein, weil auch die Thüringer CDU mit ihrem Chef Mike Mohring an der Wahl beteiligt war. In Erfurt demonstrieren Menschen vor dem Landtag und der Staatskanzlei, in vielen anderen deutschen Städten Menschen vor FDP- und CDU-Zentralen.
Kemmerich erklärt Rücktritt nach 25 Stunden im Amt
Grade einmal 25 Stunden war er im Amt, nun hat Thomas Kemmerich seinen Rücktritt von seiner Position als Ministerpräsident von Thüringen angekündigt.
© Quelle: AFP
Und auch in Südafrika kennt man nun das kleine deutsche Bundesland Thüringen: Bundeskanzlerin Angela Merkel hat die Ministerpräsidentenwahl dort zum Thema gemacht. Sie hat dabei nicht nur mit dem Grundsatz gebrochen, bei Auslandsreisen nicht über Innenpolitik zu reden, sondern auch ihre übliche Gelassenheit verlassen und sehr deutliche Worte gewählt. Die Causa Thüringen, eine Stimme hin oder her, das war spätestens jetzt klar, hatte das Potenzial zu einer richtig großen Krise.
In Merkels Flugzeug
Als Merkel am Mittwoch von dem Thüringer Ergebnis erfährt, hat der Airbus A340 der Luftwaffe gerade in Berlin abgehoben. Mehr als zehn Stunden Flugzeit liegen vor ihr. Eigentlich will Merkel sich auf ihre außenpolitische Strategie konzentrieren: Afrika soll mehr Bedeutung bekommen. Aber jetzt geht es erst mal um Erfurt. In der Delegation schüttelt man den Kopf über die Erfurter Ereignisse.
In Berlin fordert die SPD-Vorsitzende Saskia Esken die CDU per Tweet zum Handeln auf. Vizekanzler Olaf Scholz erklärt, die CDU müsse Fragen beantworten. Manche in der CDU verstehen das als Drohung mit dem Ende der Groko. Merkel greift zum Telefonhörer, Kramp-Karrenbauer telefoniert mit Esken und ihrem Co-Vorsitzenden Norbert Walter-Borjans. Für Samstag wird eilig ein Koalitionsausschuss einberufen.
„Wir haben ein Riesenproblem“
Das CDU-Präsidium wird zu einer Telefonschaltkonferenz zusammengetrommelt. Parteichefin Kramp-Karrenbauer ist aus Straßburg zugeschaltet. Die Meinung ist einhellig, berichten Teilnehmer: „Wir haben ein Riesenproblem.“
Manche finden auch stärkere Worte, Kraftausdrücke fallen. Stinksauer seien viele gewesen, heißt es. „Die CDU hat nicht akzeptiert, dass sie die Wahl verloren hat“, so wird es Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer später auch öffentlich sagen.
Er ist der erste führende CDU-Mann, der sich nach vorne wagt. Ein Ostdeutscher, darauf hat man wohl geachtet.
Thüringens Landeschef Mohring versucht sich zu verteidigen. Man sei in Thüringen nun mal in einer schwierigen Lage, sagt er im Präsidium. Man habe eben nicht Bodo Ramelow von der Linkspartei zum Ministerpräsidenten machen wollen, auch nicht durch Enthaltung. Aber das verfängt nicht.
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Kramp-Karrenbauer gibt die Linie vor: Keine Nähe zur AfD. Einstimmig sei das Präsidium ihrer Linie gefolgt, dass die CDU sich nicht an einem Kabinett Kemmerich beteiligen werde, twittert sie hinterher. Und dass Neuwahlen das Beste wären.
Feindselige Worte
Einstimmig? Nun ja. Mohring, so heißt es, habe zumindest nicht widersprochen. Aber hat er damit zugestimmt? Nach der Ministerpräsidentenwahl hat er erklärt, die CDU werde sich „nicht der Mitarbeit verweigern“.
Der Thüringer Bundestagsabgeordnete Mark Hauptmann, Vorsitzender der Jungen Gruppe der Unionsparlamentarier, twittert in der Nacht: „Es wird keine Neuwahlen geben, sondern eine bürgerliche Minderheitsregierung, ohne AfD.“ Auch Altministerpräsident Bernhard Vogel springt Mohring bei: „Dass man einen Mann der Mitte wählt, ist doch als solches noch kein Tabubruch.“ Die Landesverbände von Junger Union, Frauen-Union, Mittelstandsvereinigung verfassen eine Erklärung, in der vor Neuwahlen gewarnt wird.
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In der Landes-CDU fallen feindselige Worte Richtung Berlin. Keine Ahnung habe man dort von den Thüringer Verhältnissen, heißt es. Zu diesen Verhältnissen gehört, dass es in der CDU einige gibt, die die AfD gar nicht so schlimm finden. Und es gehört dazu, dass Mike Mohring seit dem miserablen Landtagswahlergebnis um sein Amt kämpft.
Auch für Kramp-Karrenbauer geht es um viel. Es geht ja immer noch auch um die Kanzlerkandidatur und zu der gehört die Frage der Führungskraft.
Merz meldet sich
Ausgerechnet wenige Stunden nach der Abstimmung im Erfurter Landtag meldet sich Friedrich Merz zu Wort und verkündet, seinen umstrittenen Job als Aufsichtsratschef der Investmentfirma BlackRock niederzulegen. Er wolle „die CDU noch stärker bei ihrer Erneuerung unterstützen“, begründet er den Schritt.
Was für ein Zufall an einem Tag, an dem Kramp-Karrenbauer verkünden muss, die Thüringer CDU habe „gegen Empfehlungen, Forderungen und Bitten“ der Bundespartei gehandelt. Mit anderen Worten: Sie hat sich nicht durchsetzen können.
Nun agieren Landesverbände durchaus selbstständig, sie verbitten sich regelmäßig die Einmischung ihrer Parteizentralen. Aber Schleswig-Holsteins Ministerpräsident Daniel Günther, der Anfang der Woche noch mal ein Bündnis mit der Linkspartei ins Gespräch gebracht hat, beklagt öffentlich die Sprachlosigkeit der Bundes-CDU in den vergangenen Monaten.
Stimmt nicht, es habe regelmäßigen Austausch gegeben, heißt es in der Parteizentrale. Aber Mohring hat schon im Wahlkampf immer wieder deutlich gemacht, dass er sich vom Bund alleine gelassen fühlt.
Die AKK-Front
Ein CDU-Grande nach dem anderen schwenkt auf Kramp-Karrenbauers Kurs ein: die Ministerpräsidenten, der Vorsitzende der Bundestagsfraktion. Nur CSU-Chef Markus Söder schafft es, die CDU zu überholen: Er stellt die Neuwahlforderung ein paar Minuten vorher. Am Abend droht Kramp-Karrenbauer im Fernsehen freundlich lächelnd Richtung Thüringen: „Eine Unterstützung des Ministerpräsidenten durch die CDU wäre ein Verstoß gegen die Beschlusslage der CDU.“
In der Parteizentrale haben sie schon das Statut herausgesucht. In Paragraf 10 und 11 sind da Parteiausschlussmöglichkeiten geregelt und auch die vorübergehende Absetzung, beispielsweise von Landesvorsitzenden.
Am Morgen tritt der neue Ministerpräsident Kemmerich im Fernsehen auf, sagt, er habe etwas schlecht geschlafen. Und er verkündet: „Neuwahlen sind keine Option.“ FDP-Chef Christian Lindner hat sich da schon aufgemacht von Berlin nach Erfurt.
Ärger in der FDP
Lindner ist unter Druck, es geht jetzt auch um sein Amt, das erste Mal so richtig seit sieben Jahren. Und das liegt auch an ihm selbst. Als Kemmerich, der die FDP in Thüringen knapp in den Landtag geführt hat, gewählt ist, gibt Lindner nämlich in einer Telefonschalte der Parteispitze die Devise „Weitermachen“ aus. Union, SPD und Grüne sollten jetzt das Gesprächsangebot Kemmerichs für eine Zusammenarbeit in Thüringen annehmen, findet er. Öffentlich sagt er: Die Trennlinie zur AfD sei ganz klar.
Aber in der FDP folgen sie ihm nicht, nicht alle zumindest. Vorstandsmitglied Marie-Agnes Strack-Zimmermann fordert Kemmerichs Rücktritt. Vizefraktionschef Alexander Graf Lambsdorff stimmt ein und auch der nordrhein-westfälische Landesvorsitzende Joachim Stamp.
Sätze, die bislang unsagbar schienen in der FDP, werden plötzlich sagbar. Der Bundestagsabgeordnete Thomas Sattelberger schreibt auf Twitter über Kemmerich: „Selbst ein Parteiausschlussverfahren ist für mich denkbar.“ – „Schäme mich für meine FDP“, setzte er hinzu.
FDP-Chef Lindner bestreitet Zusammenarbeit mit AfD in Thüringen
Nach der Wahl von Thomas Kemmerich zum Ministerpräsidenten von Thüringen bestreitet FDP-Chef Christian Lindner, dass es eine Übereinstimmung mit der AfD gab.
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Konstantin Kuhle, innenpolitischer Sprecher im Bundestag und Generalsekretär der niedersächsischen FDP, sagt dem RND: „Mit jeder Stunde, in der Thomas Kemmerich weiter im Amt bleibt, nährt die Thüringer FDP Zweifel an der Zurechnungsfähigkeit der gesamten Partei und an ihrer Verortung in der politischen Mitte.“
Wer hält zu Lindner?
Auch die wahlkämpfende Hamburger FDP distanziert sich. Lindner ist relativ alleine, an seiner Seite steht wahrnehmbar vor allem der gerne lautstarke Wolfgang Kubicki.
Kramp-Karrenbauer lässt wissen, sie habe Lindner gebeten, dass die FDP keinen eigenen Kandidaten aufstelle. Aber der habe „augenscheinlich auch keinen Durchgriff gehabt“.
Am Donnerstag macht sich Lindner auf nach Erfurt. Das Ziel, so wird es in Parteikreisen verbreitet: den gerade gewählten Ministerpräsidenten zum Rückzug zu bewegen. Das dauert eine Weile.
Thüringen in Südafrika
Und inzwischen wird im südafrikanischen Pretoria Angela Merkel mit 19 Salutschüssen begrüßt. Sie ist zum ersten Mal seit acht Jahren im Land. Im Präsidentenpalast sind im Sitzungssaal große Fahnen aufgehängt. Präsident Cyril Ramaphosa freut sich über die Unterzeichnung von Verträgen. Merkel nimmt ihn kurz beiseite. Sie tuscheln ein wenig, vielleicht fällt da das Wort Thüringen.
Ihr Statement beginnt Merkel jedenfalls dann „mit einer Vorbemerkung“, wie sie es nennt. Alles Feierliche ist verflogen.
Merkel: Kemmerichs Wahl ist „unverzeihlich“
„Die Wahl dieses Ministerpräsidenten war ein einzigartiger Vorgang, der mit einer Grundüberzeugung gebrochen hat – für die CDU und auch für mich.“
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„Die Wahl dieses Ministerpräsidenten war ein einzigartiger Vorgang, der mit einer Grundüberzeugung für die CDU und auch für mich gebrochen hat, dass nämlich keine Mehrheiten mithilfe der AfD gewonnen werden sollen“, sagt Merkel. „Da dies in der Konstellation, in der im dritten Wahlgang gewählt wurde, absehbar war, muss man sagen, dass dieser Vorgang unverzeihlich ist und deshalb das Ergebnis rückgängig gemacht werden muss.“
Unverzeihlich und unumgänglich
Es sei „ein schlechter Tag für die Demokratie“ gewesen, fügt Merkel noch hinzu. Lange Sätze waren das, aber die Adjektive sitzen: einzigartig und unverzeihlich.
In Erfurt sagt FDP-Chef Christian Lindner, er werde am Freitag in den Parteigremien die Vertrauensfrage stellen.
Kurz zuvor ist Kemmerich in der Staatskanzlei vor die blaue Wand getreten. Die FDP werde die Auflösung des Landtags beantragen sagt er. Sein Rücktritt sei „unumgänglich“.
Es gibt ein paar Fragen. Kemmerich sagt, er sei zu nichts gezwungen worden. Es gebe halt eine neue Lage. Seine Sprecher beenden die Veranstaltung. Kemmerich bleibt noch ein paar Sekunden stehen und blickt ins Leere.
Die Linkspartei lässt wissen, Bodo Ramelow stehe wieder als Kandidat zur Verfügung.
RND