Wie ein Jahr Krieg das Regierungsviertel verändert hat
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Das Reichstagsgebäude in der Morgendämmerung.
© Quelle: Christoph Soeder/dpa
Liebe Leserin, lieber Leser,
als in dieser Woche auf einmal unbekannte Flugobjekte in den Nachrichten kursierten und sich gleich zahlreiche meiner Kolleginnen und Kollegen mit der Frage befassten, ob es gar Ufos sein könnten, dachte ich: Klar! Nach dem Coronavirus, nach dem Einmarsch der Russen in die Ukraine und nach dem Jahrhundertbeben in der Türkei beehren uns nun Außerirdische. Das überwiegende Urteil zum Alienbesuch lautete dann aber doch „unwahrscheinlich“ – und kurz darauf schwappten die Nachrichten über den Atlantik, dass die von den Amerikanern abgeschossenen fliegenden Objekte wohl irdischer Herkunft und harmlos waren.
Erneute Angriffswelle
Ansonsten gibt es kurz vor dem Jahrestag des Angriffskriegs Russlands gegen die Ukraine keinerlei Entwarnungen. Im Gegenteil: Rund um den 24. Februar muss mit einer erneuten Angriffswelle aus Russland gegen Kiew gerechnet werden. Dann geht Europa ins zweite Kriegsjahr. Eine zutreffende Prognose zu tätigen, wie lange der Krieg in der Ukraine noch dauern wird, ist ähnlich wahrscheinlich wie der Besuch von Aliens im Regierungsviertel.
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Bachmut: Zwei ukrainische Soldaten gehen die Straße entlang – wie lang der Krieg noch dauern wird, kann aktuell niemand sagen.
© Quelle: Libkos/AP/dpa
Die Stimmungslage zwischen Reichstagsgebäude und Kanzleramt, zwischen Willy-Brandt- und Konrad-Adenauer-Haus hat sich im Jahr der Zeitenwende sehr verändert. Viele Gewissheiten sind verloren gegangen. Plakatierten die Grünen noch im Bundestags-Wahlkampf, keine Waffen in Krisengebiete liefern zu wollen, sind es nun ihre Vertreterinnen und Vertreter wie Außenministerin Annalena Baerbock und Europapolitiker Anton Hofreiter, die am lautesten nach Panzern und Munition für die Ukraine rufen.
Die Sozialdemokraten haben sich immer gegen das mit der Nato vereinbarte 2‑Prozent-Ziel beim Wehretat gestemmt, nun muss Verteidigungsminister Boris Pistorius einen Aufschlag auf das schon eingeplante Sondervermögen von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr fordern. Allein für das kommende Jahr will Boris Pistorius seinen Etat um 10 Milliarden auf 60 Milliarden Euro ausweiten. Man hätte sich vor einem Jahr auch nicht vorstellen können, dass Linken-Galionsfigur Sahra Wagenknecht gemeinsam mit Frauenrechtlerin Alice Schwarzer ein Manifest für den Frieden verfasst, dem sich dann der Parteichef der AfD, Tino Chrupalla, anschließt. Es gilt vieles nicht mehr, was zuvor selbstverständlich war.
Der Ton hat sich verändert
Nach außen funktionieren die herkömmlichen Politikreflexe noch. Die Koalition streitet über Tempolimit und Planungsbeschleunigung. Die Union als größte Opposition schwankt zwischen Polemik und seriöser Profilierung. Hinter den Kulissen hat sich der Ton seit Beginn des Krieges aber sehr verändert. Während es in den Hintergrundkreisen und bei den Empfängen in Berlin früher oft mit Leichtigkeit zuging, ist in den vergangenen Monaten viel Besorgnis eingezogen. Kann die Energieversorgung wirklich gesichert werden? Wie kann die übergroße Zahl an Flüchtlingen versorgt werden? Was macht Putin als Nächstes? Wie lässt sich ein Kippen der Stimmung in der Bevölkerung verhindern? Und wie kann dieser Krieg jemals enden? Die Gruppe, die von Berufs wegen eigentlich auf jede Frage eine Antwort hat, erlebt man in diesen Zeiten oft auch ratlos. Die eine oder der andere lässt auch offen seine oder ihre persönliche Verstörung über die Lage erkennen.
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Die sich verändernde Haltung der Bevölkerung zum Thema Waffenlieferungen ist immer wieder Thema – auch in den Runden im Kanzleramt.
© Quelle: Christoph Soeder/dpa
Die schrill geführte Debatte, ob und welche Waffen Deutschland als Nächstes liefern sollte, spiegelt diese emotionale Lage aus meiner Sicht übrigens auch wider. Liefert der Westen keine Waffen mehr, dann wird Russland die Ukraine in absehbarer Zeit einnehmen können und ein noch größeres Blutbad gegen die Bevölkerung anrichten. Liefert der Westen immer mehr Waffen, verlängert sich der Krieg. Es ist also die Wahl zwischen Pest und Cholera.
Den Politikerinnen und Politikern im Regierungsviertel ist es übrigens sehr wohl bewusst, dass ihre mehrheitliche Haltung für weitere Waffenlieferungen einem schwindenden Rückhalt in der Bevölkerung gegenübersteht. Diese wachsende Kluft ist in vielen Runden Thema – insbesondere im Kanzleramt.
Machtpoker
Eine Politik gegen das Auto ist ganz offensichtlich nicht im Interesse der Menschen.
Christian Lindner,
FDP-Vorsitzender
Die Liberalen haben bei der Wahl in Berlin nicht den Sprung ins Abgeordnetenhaus geschafft. Nach fünf vergeigten Landtagswahlen ist es für die FDP eigentlich höchste Zeit, einmal vor der eigenen Tür zu fegen. Man mag Lindner den Satz aus Bergpredigt zurufen: „Warum siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken in deinem Auge bemerkst du nicht?“ Keine Frage: Vor allem die kuriose Stilllegung der Friedrichstraße durch die sogenannte Mobilitätssenatorin und Spitzenkandidatin der Grünen, Bettina Jarasch, hat bei vielen Berlinerinnen und Berlinern für Unmut gesorgt.
Aber Rot-Grün-Rot hat wegen Verwaltungsversagen und misslingender Integrationspolitik einen Dämpfer bekommen. Die Staus und die Parkplatzknappheit sind in Berlin auch nicht häufiger oder länger als in anderen Großstädten. Kurzum: Die FDP braucht selbst mehr und überzeugendere Konzepte für eine multikulturelle Großstadt, als immer nur die Autofahrerfahne hochzuhalten.
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Die FDP um Finanzminister Lindner braucht selbst mehr und überzeugendere Konzepte für eine multikulturelle Großstadt, als immer nur die Autofahrerfahne hochzuhalten.
© Quelle: IMAGO/Lehtikuva
Wie Demoskopen auf die Lage schauen
Mehr als die Hälfte der Bevölkerung (56 Prozent) sorgt sich inzwischen, dass Deutschland direkt in den Krieg in der Ukraine hineingezogen werden könnte, wenn Deutschland immer mehr Waffen liefert. Das geht aus einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Forsa hervor. Lediglich die Anhängerinnen und Anhänger der einst friedensbewegten Partei der Grünen sehen das zu zwei Dritteln anders. Eine große Mehrheit der Deutschen (64 Prozent) glaubt auch, dass die Ukraine mit der Lieferung weiterer Waffen den Krieg nicht wird gewinnen können. Auch in dieser Frage unterscheiden sich die Wählerinnen und Wähler der Grünen vom Rest der Bevölkerung. In der Sonntagsfrage gibt es kaum Bewegung. Nur die FDP sinkt um einen Prozentpunkt auf nun nur noch sechs Prozent.
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© Quelle: Forsa
Das ist auch noch lesenswert
An dieser Stelle möchte ich ausnahmsweise einen Text empfehlen, der sich mit dem Thema Kultur befasst. Anlässlich der Hundekotattacke des inzwischen suspendierten Ballettdirektors der Oper Hannover gegen eine Kritikerin hat mein Kollege Sebastian Scheffel sich mal das Verhältnis anderer spannungsreicher Paarungen zwischen Kunst und Kritik angeschaut. Er erinnert unter anderem an den Schriftsteller Martin Walser, der den Roman „Tod eines Kritikers“ veröffentlichte und damit keinen anderen meinte als seinen schärfsten Kritiker: Marcel Reich-Ranicki. „Erbärmliches Buch“ und „dumme Sau“: Wenn Kritiker und Künstler aneinander geraten
Erinnern Sie sich noch an die Debatten aus dem Reich der Gesundheitspolitik, bevor es um Corona ging? Die Organspende beziehungsweise die ausbleibende Organspende in Deutschland stand oft im Mittelpunkt. Das vor drei Jahren in Kraft getretene Gesetz, das eigentlich die Zahl der Organspenden in die Höhe treiben sollte, funktioniert nicht. Tim Szent-Ivanyi fasst die neue Debatte zusammen, ob wir alle auch ohne Einwilligung mögliche Spender sein sollen.
Im Vorfeld der Münchner Sicherheitskonferenz möchte ich das Interview mit dem Chef der Veranstaltung Christoph Heusgen empfehlen, früher außenpolitischer Berater von Kanzlerin Merkel. Im Gespräch mit Kristina Dunz sagt er, dass er für eine Wiederbelebung des deutsch-russischen Verhältnisses eine „Deputinisierung“ wie seinerzeit die Denazifizierung in Deutschland für nötig halte.
Und außerdem nach der Wahl in Berlin: Hintergrund von Daniela Vates: Wie die FDP mit ihren Niederlagen umgeht
Das Autorenteam dieses Newsletters meldet sich am Samstag wieder. Dann berichtet meine Kollegin Kristina Dunz.
Herzlichst
Ihre Eva Quadbeck
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