Corona und die wachsende Landlust: „Zu Hause ist da, wo man WLAN hat“

Die Bar im Coconat in Bad Belzig.

Die Bar im Coconat in Bad Belzig.

Werben/Klein Glien. In ihrem Garten, sagt Anne Saß, wächst und gedeiht gerade alles wie noch in keinem anderen Jahr. Gerade kommt sie aus der Parzelle, die sie hinterm Deich gekauft hat. Sie stellt ihr altes Damenrad vor dem kleinen Haus mit den hellen Fachwerkbalken und den übermannshohen Heckenrosen vor der Tür ab.

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Der Storch im Nest auf der kleinen Backsteinkapelle nebenan klappert. Hier, im 600-Einwohner-Städtchen Werben an der Elbe in der Altmark, verbringt die Berliner Familie Saß zu normalen Zeiten ihre Wochenenden.

Aber in diesem Jahr ist alles anders. Aus dem Wochenendhäuschen ist eine Corona-Fluchtburg geworden und über Monate der Arbeitsmittelpunkt der Familie Saß. Und das, obwohl sie zunächst noch nicht einmal Internet hatte. Nachdem das geklärt war, schalteten sich die vier Stadtflüchtigen in ihre jeweiligen Videokonferenzen ein.

Anne Saß in Werben.

Anne Saß in Werben.

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Die Gymnasiallehrerin Anne verteilte Aufgaben an ihre Schüler. Ihr Mann Ole, Landschaftsarchitekt, konferierte online mit seinen Kunden. Die beiden Töchter im Grundschulalter absolvierten ihr Homeschooling und vergnügten sich anschließend im Deichvorland.

Die ganze Familie genoss die Natur in der weitläufigen Landschaft an der Elbe, freute sich über die Adler und Störche, die Hasen, Füchse und Rehe in den Wiesen.

Rückblick: Sechs Monate Corona in Deutschland

Ein halbes Jahr nach der ersten bestätigten Sars-CoV-2-Infektion gibt es in Deutschland eine “neue Normalität” und die Sorge vor einer zweiten Welle.

Schon seit Jahren verspüren immer mehr Großstädter die Sehnsucht nach dem Landleben. Die Grundstückspreise im Umland der Metropolen steigen wieder, lange leer stehende Häuser verschwinden vom Markt und werden saniert. Gerade Menschen zwischen 30 und 45 zieht es raus aus der Stadt.

Corona verstärkt den Zug aufs Land

Corona hat den Trend massiv verstärkt. Im Frühjahr des Lockdowns verloren die großen Städte urplötzlich ihren Reiz: Theater, Kinos, Kneipen schlossen. Zu viele Menschen auf einem Fleck lösten sofort Unbehagen aus. Wer sich zurückziehen kann in die Weite wie Familie Saß, wer mobil arbeiten kann und ein Häuschen sein Eigen nennt, gehört zu den Hauptgewinnern. Das Bundesland Sachsen-Anhalt, in dem Werben liegt, erließ nicht wie andere Länder Aufenthaltsverbote für Zweitwohnungsbesitzer. So konnte die Sehnsucht nach dem Land auch für länger gestillt werden.

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“Neu war für uns vor allem, hier auch zu arbeiten”, sagt Anne Saß. “Das hat bei mir zunächst einen kleinen Frust ausgelöst – der Ort von Wochenenden und Ferien wurde plötzlich zum Ort des Alltags. Aber das war schnell überwunden. Wir haben gemerkt, wie attraktiv wir das entschleunigte, reduzierte Leben hier finden.”

Silvia Hennig erforscht mit ihrem Thinktank “Neuland 21” den neuen Drang der Städter aufs platte Land. Ihr erster Befund ist eindeutig: Die Corona-Beschränkungen haben den Trend massiv verstärkt: “Durch die erzwungene Abkehr von der Präsenzkultur haben viele Leute zum ersten Mal mobil gearbeitet. Das wird dauerhafte Effekte haben. Es wird in mehr Unternehmen einen Mix zwischen Präsenz und mobilem Arbeiten geben. Das bedeutet eine große Entlastung für diejenigen, die zwischen Stadt und Land pendeln oder dies vorhaben.”

Die Effekte seien bereits jetzt spürbar, sagt Hennig: Projekte, die gemeinsames Wohnen und Arbeiten im weiteren Umkreis der Metropolen ermöglichen, könnten sich vor Anfragen kaum noch retten. “Wir registrieren ein deutlich gestiegenes Interesse seit Corona”, sagt etwa Frederik Fischer, der in Wiesenburg im Fläming das “KoDorf” aufbaut.

Mit kleinen Häusern und großen Gemeinschaftsgebäuden sollen die neuen Siedler auf einem alten Sägewerkgelände Land und Stadt miteinander verbinden – mit stündlicher Zugverbindung nach Berlin gleich nebenan. Ein weiteres Dorf soll in Erndtebrück in Nordrhein-Westfalen entstehen.

Skuli Thorarensen ist schon seit Februar nicht mehr nach Berlin gefahren. Der 51-jährige Unternehmer aus Reykjavik wollte sich ursprünglich nur ein paar Wochen aufs Land zurückziehen. Er buchte sich im Coconat ein, einem alten Gutshof bei Bad Belzig, der zum Mekka für Stadtmüde wurde.

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Die Mischung aus schnellem Internet, gemeinsamen Mahlzeiten und einem weitläufigen idyllischen Gelände zieht jedes Jahr mehr Digitalarbeiter an, die in der Idylle konzentriert arbeiten wollen. In der Hochphase der Pandemie isolierten sich die Bewohner gemeinsam, lebten zunächst von den Vorräten – und Skuli Thorarensen blieb bei ihnen.

Gast Skuli Thorarensen und Gründerin Julianne Becker im Coconat in Bad Belzig.

Gast Skuli Thorarensen und Gründerin Julianne Becker im Coconat in Bad Belzig.

“Ich plane nicht, hier demnächst wieder wegzugehen”, sagt der ruhige Isländer mit dem ausgefransten Vollbart, während sein neunjähriger Labrador an der Leine zieht. “Mir fehlt die Stadt überhaupt nicht. Es fühlt sich hier sehr sicher an. Und seit Corona ist es viel einfacher geworden, Geschäftspartner zu Onlinemeetings zu treffen, statt zu ihnen fahren zu müssen. "

Und seit das Coconat wieder Gäste empfängt, findet er auch hier genug Gespräche, Kontakte, Vernetzungsmöglichkeiten. Thorarensen will zwei Jahre in Deutschland bleiben, um seine Software auf dem deutschen Markt einzuführen. In den nordischen Ländern läuft sein Schulmanagementsystem bereits, das eine Kommunikationsplattform für Lehrer, Schüler und Behörden bieten soll. “Wir sind Deutschland zehn Jahre voraus”, sagt er. Für sein Geschäft kann das nur gut sein. “Durch den Digitalpakt eröffnen sich mir auch hier Möglichkeiten – und Corona hat das noch einmal beschleunigt.”

“Zu Hause ist da, wo man WLAN hat” steht auf einem Schild an der Coconat-Bar im Gutshaus. Es fasst das Lebensgefühl der digitalen Nomaden zusammen, die bisher als Arbeitstouristen nach Klein Glien kamen. Das Schild hängt dort schon länger, doch seit diesem Frühjahr haben erzwungenermaßen weit mehr Menschen dieses Lebensgefühl entdeckt, sagt Coconat-Gründerin Julianne Becker. “Als wir wieder öffnen durften, hatten wir Gäste aus Branchen, die bisher nie über mobiles Arbeiten nachgedacht haben – Banker zum Beispiel.”

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Sie ist sich sicher, dass das auch nach dem Ende der Pandemie so bleiben wird. “Unternehmen können sich jetzt nicht mehr dagegen wehren, wenn ihre Beschäftigten teilweise mobil arbeiten wollen – weil sie gesehen haben, dass es funktioniert”, sagt sie.

Das kann vielen Stadtflüchtigen die Möglichkeit eröffnen, nicht nur die Wochenenden auf dem Lande zu verbringen – oder sich eben zum konzentrierten Arbeiten in Orte wie das Coconat zurückzuziehen. “Wir haben in den vergangenen Monaten alle darüber nachgedacht, wie wir leben wollen”, glaubt Becker. “Davon wird etwas bleiben.”

Ein Theaterfotograf zwischen Ausstellung und Kartoffeln pflanzen

Das Leben von Christian Brachwitz wurde am 12. März auf den Kopf gestellt, als die Berliner Theater schlossen. Der renommierte Theaterfotograf hatte in der Stadt nichts mehr zu tun – und zog sich wie Familie Saß nach Werben zurück. Seit 30 Jahren kommt er in die winzige Stadt in der Altmark, saniert ein Fachwerkhaus und engagiert sich im Altstadt-Arbeitskreis.

Jetzt steht Brachwitz in der Salzkirche direkt neben dem Haus der Familie Saß und zeigt eine Ausstellung mit großformatigen Abzügen seiner Theaterbilder. Im Haus gegenüber hat er eine zweite Schau mit Schwarz-Weiß-Aufnahmen aus dem DDR-Alltag. Brachwitz war in den 1980er-Jahren als Fotograf für die Wochenzeitung “Sonntag” unterwegs.

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Er eckte immer wieder wegen seiner Bilder an, die keine heroischen Genossen zeigten, sondern müde Arbeiter, freche Kinder und Freiräume der 16 Millionen DDR-Bürger. “Ich hatte ja in den vergangenen Monaten viel Zeit, die Bilder auszusuchen”, sagt er. “Und jetzt sehen die Werbener endlich einmal, womit der Typ sein Geld verdient. Die kennen mich ja sonst nur im Garten grabend oder am Haus herumwerkelnd.”

Für die kommende Theaterspielzeit hat Brachwitz wieder einen Vertrag in Berlin. Mit einer Neuerung: Zum ersten Mal steht dort, dass bei “höherer Gewalt” das Arbeitsverhältnis endet. Die Möglichkeit einer zweiten Welle hat es bis in die Vertragsklauseln geschafft. Brachwitz nimmt es mit Humor: “Ich habe Kartoffeln gepflanzt. Und die Kürbisse kommen.” Werben bleibt eine Möglichkeit für ihn.

Zu viel wurde in den vergangenen Jahrzehnten weggeschrumpft

Trotz der wachsenden Landlust verlieren viele Dörfer und Kleinstädte nach wie vor Einwohner. Mancherorts prangen noch die Schlecker-Schilder über leer stehenden Läden – die Pleite der Drogeriekette ist schon acht Jahre her. Viele Kommunen könnten mehr tun, um Stadtmüde anzulocken, sagt Forscherin Silvia Hennig. “Die Gemeinden müssen sich auf veränderte Bedürfnisse einstellen. Viele locken mit günstigem Bauland und freuen sich, dass die Nachfrage nach Baugrundstücken steigt.”

Aber das sei nicht alles. “Viele Familien würden auch in eine Wohnung im Kleinstadt-Ortskern ziehen – aber die Angebote gibt es oft gar nicht.” Es fehle schlicht an Möglichkeiten für einen Lebensstil jenseits der Fünf-Tage-Woche im Büro und dem Wochenende im Garten. Zudem rückten die großen Probleme des ländlichen Raums verstärkt in den Blick: Schule, Mobilität, medizinische Versorgung, Infrastruktur generell. Zu viel wurde in den vergangenen Jahrzehnten weggeschrumpft.

Auch Familie Saß in Werben sucht jetzt nach Möglichkeiten, wie sie auch in Zukunft mehr Zeit in ihrem Elb-Paradies verbringen kann. Die Zeiten des reinen Onlinearbeitens sind spätestens mit dem Schuljahresbeginn vorbei.

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Ganz herzuziehen kommt für die Familie schon wegen der Töchter nicht infrage: Die Werbener Grundschule ist geschlossen, Schüler müssen stundenlang mit dem Bus fahren. Der Plan einer Freien Schule Werben scheiterte an der fehlenden Genehmigung des Landes. “Das war tragisch”, sagt die Lehrerin Saß. “Das hätte Werben auch für junge Familien attraktiv gemacht.”

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