Soziologin Allmendinger: “Das Leben ist keine Videokonferenz”
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“In der Heimarbeit liegt ein immenser gesellschaftlicher Sprengstoff”, sagt die Soziologin Jutta Allmendinger.
© Quelle: Sebastian Gollnow/dpa
Berlin. Frau Allmendinger, leben wir nach Corona in einem anderen Land als vorher?
Ja. Die Menschen sind sich bewusster über die Verletzlichkeit des Lebens und verstehen deshalb die Notwendigkeit staatlichen Handels besser. Gleichzeitig haben wir erkannt, welche Bedürfnisse und Werte für uns besonders wichtig sind. Das gilt vor allem für die sozialen Kontakte, die wir vorher oft für selbstverständlich genommen haben. Zwar wissen wir jetzt, dass sich vieles digital organisieren lässt. Doch das Leben ist keine Videokonferenz.
Verändert sich unsere Arbeitswelt durch das Coronavirus gerade für immer?
Unsere Arbeitswelt wird nach Corona nicht mehr dieselbe sein. Auch künftig werden mehr Menschen zu Hause arbeiten. Das wirft eine wichtige gesellschaftliche Frage auf: Erleben wir eine Art Spaltung zwischen denen, die wählen können, ob sie zu Hause oder am Arbeitsplatz arbeiten, und denen, die immer an ihren Arbeitsplatz müssen?
Wer zu Hause arbeiten kann, ist in Ihrer Sicht ein Privilegierter?
Privilegiert ist, wer sich aussuchen kann, wo er arbeitet. Die entscheidende Frage ist aber: Bleibt dieses Privileg erhalten? Unternehmen werden darauf dringen, dass Menschen zu Hause arbeiten – schon, um Geld für Büroräume einzusparen. Außerdem könnte es eine gesellschaftliche Debatte geben, ob die Arbeit zu Hause nicht ökologisch sinnvoller ist, um die Schadstoffemissionen des Verkehrs zu reduzieren. Das Privileg der Heimarbeit kann ganz schnell zum Zwang werden, ja zu einer Art Entzug führen.
Worin besteht dieser Entzug?
Würden Sie auch arbeiten, wenn Sie kein Geld verdienen müssten? 60 Prozent der Menschen antworten auf diese Frage mit Ja. Als Grund nennen sie nicht nur den Wunsch, sich im Beruf zu verwirklichen. Sie sagen auch: Ich möchte mich noch in einem anderen Umfeld als nur bei mir zu Hause bewegen. Wer zu Hause arbeiten muss, verliert diese Freiheit.
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Soziologin Jutta Allmendinger
© Quelle: imago/photothek
Ist das nur ein individuelles oder auch ein gesellschaftliches Problem?
In der Heimarbeit liegt ein immenser gesellschaftlicher Sprengstoff. Wir zerfallen doch schon lange immer mehr in Einzelgruppen. Selbst im Sportverein oder in der Schule fehlt es oft an der gesellschaftlichen Durchmischung. Die Erwerbsarbeit hat uns bislang alle irgendwie zusammengebracht – und sei es nur in der S-Bahn oder in der Cafeteria. Es verändert ein Land, wenn Menschen, die ohnehin schon wenig miteinander zu tun haben, sich nicht einmal beiläufig treffen – außer vielleicht im Supermarkt. Wo soll da das gegenseitige Verständnis in der Gesellschaft herkommen?
Brauchen wir also ein Recht auf Homeoffice – oder einen Schutz vor Homeoffice?
Wir werden, jenseits von den gesellschaftlichen Fragen, zumindest ganz andere Arbeitszeitregelungen brauchen. Sie werden über meine Aussage überrascht sein: Aber wenn wir wieder an dem Punkt sind, wo die Kitas und Schulen geöffnet haben, müsste man die Arbeitszeit von Menschen, die zu Hause arbeiten, eigentlich bei gleicher Bezahlung reduzieren. Denn wer zu Hause ungestört ist, arbeitet in der Regel effizienter als im Büro. Gleichzeitig fällt die soziale Komponente weg, dass man zum Geburtstag des Kollegen ins Nachbarbüro geht und dort gemeinsam Kuchen isst. Für solche Erfahrungen bräuchten die Menschen dann tatsächlich mehr Freizeit.
Es wäre, nun ja, ein ehrgeiziges Projekt, Arbeitgeber davon zu überzeugen.
Da haben Sie recht, zumal es schwierig ist, solche Arbeitszeiten standardisiert festzulegen. Dazu kommt noch eine weitere große gesellschaftliche Frage, die durch das Thema Homeoffice sehr stark in Mitleidenschaft gezogen wird: die Gleichberechtigung. Ich fürchte, dass die Heimarbeit zur Verheimlichung von Frauen führt und sie wieder stärker in die Rolle drängt, in erster Linie die Organisation der Familie zu übernehmen – während der Mann, der oft etwas mehr Geld verdient, sich ungestört in das einzige Arbeitszimmer in der Wohnung zurückzieht.
Um das zu verändern, müsste also die Lohnlücke zwischen Männern und Frauen geschlossen werden, oder?
Entscheidend ist: Wir müssen bezahlte und unbezahlte Arbeit zwischen Männern und Frauen gleichmäßiger aufteilen. Die Lohnlücke zwischen den Geschlechtern wird sich nur dann schließen, wenn wirklich beide gleichermaßen ihren Anteil an der Familienarbeit übernehmen. Im Moment drohen sich die alten Rollenbilder zu verfestigen. Die Kinder sehen vielfach: Beide Elternteile sind zu Hause, aber Mama ist die, die sich kümmern muss und die gestört werden darf.
Sehen Sie ein politisches Mittel, dorthin zu kommen?
Ich denke zum Beispiel, dass es bei der Gestaltung der Elternzeit noch Raum für Verbesserungen gibt. Wir brauchen eine Erhöhung jenes Anteils an der Elternzeit, den Väter übernehmen müssen, damit das Geld für die gesamte Förderungsdauer gezahlt wird. Momentan nehmen die meisten nur zwei “Vätermonate”. Und die werden oft genutzt, um einen gemeinsamen Urlaub mit Kind und Ehefrau zu machen. Dagegen habe ich im Prinzip nichts. Aber so kommen wir gesellschaftlich nicht voran.
Glauben Sie daran, dass es jetzt eine Aufwertung von systemrelevanten Berufen wie Krankenpfleger und Kassiererin gibt – oder sind das mal wieder nur schöne Worte?
Ich fürchte, die Kassiererin und der Krankenpfleger bekommen am Ende nur ein bisschen Applaus, aber wieder einmal keine echte finanzielle Aufwertung. Wir haben uns eine Weile lang selbst ganz gern gehört, wie wir für diese Menschen klatschen. Doch die Gesellschaft verliert diese Menschen schon wieder aus dem Blick. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Politik das Thema dann noch auf die Agenda setzt, ist leider extrem gering.
Wie groß ist der Schaden in Sachen Bildungsungerechtigkeit durch die Schulschließungen in der Corona-Krise?
Auch ohne Krise macht Deutschland noch immer einen schlechten Job, wenn es um die Herstellung von Chancengleichheit im Bildungsbereich geht. In dem Moment, wo Schulen geschlossen werden, verschärft sich diese Situation allerdings. Während sich viele Akademikereltern stark für das Homeschooling ihrer Kinder engagiert haben, sind in bildungsfernen Haushalten, in denen beispielsweise die Eltern kein Deutsch sprechen, Kinder ganz auf sich allein gestellt. Für sie haben schon wenige Monate Schulausfall eine verheerende Wirkung. Wir werden in zehn Jahren ganz klar sehen können, dass sich Bildungsungerechtigkeit in Deutschland noch einmal spürbar verschärft hat.
Wenn die Digitalisierung zu mehr Bildungsungerechtigkeit führt, dann liegt das daran, dass wir sie bislang in dieser Hinsicht schlecht gemanagt haben.
Jutta Allmendinger,
Soziologin
Lässt sich die Digitalisierung für Bildungsgerechtigkeit nutzen – oder vergrößert sie unweigerlich die bestehende Ungleichheit?
Wenn wir alle Kinder mit den entsprechenden Geräten ausstatten, lässt sich die Digitalisierung natürlich für mehr Bildungsgerechtigkeit nutzen. Denn sie erleichtert es, Bildungsinhalte individuell auf die Bedürfnisse der Kinder abzustimmen. Wenn die Digitalisierung zu mehr Bildungsungerechtigkeit führt, dann liegt das daran, dass wir sie bislang in dieser Hinsicht schlecht gemanagt haben. Das ist unsere eigene Schuld, nicht die des technischen Fortschritts.
Was kann die Politik tun, damit die Krise für die Gesellschaft auch zur Chance wird?
Es wäre viel gewonnen, wenn wir aus der Krise lernen, das Thema der Vereinsamung von Menschen und die schädlichen Folgen ernster zu nehmen. Der Kampf gegen Einsamkeit muss die nächste große gesellschaftliche und politische Debatte sein. Ich habe auch eine Idee für die Zeit nach dem sogenannten Social Distancing: Es wäre doch toll, Menschen einen kleinen Zuschuss zu zahlen, wenn sie auch mal Fremde zu sich nach Hause zum gemeinsamen Essen einladen. Das wäre ein Konjunkturprogramm für die gesellschaftliche Gemeinsamkeit.
Zur Person: Die Soziologin Jutta Allmendinger ist Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung.