Das Feuer wütet weiter
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210106 Pro-Trump supporters wave with flags outside the United States Capitol Building after it being stormed during a March to Save America Rally on January 6, 2021 in Washington, DC, USA. Photo: Joel Marklund / BILDBYRAN / kod JM / JM0057 bbeng politik politics riot upplopp *** 210106 Pro Trump supporters wave with flags outside the United States Capitol Building after it being stormed during a March to Save America Rally on January 6, 2021 in Washington, DC, USA Photo Joel Marklund BILDBYRAN kod JM JM0057 bbeng politik politics riot upplopp, PUBLICATIONxNOTxINxSWExNORxAUT Copyright: JOELxMARKLUND 1000174366st
© Quelle: imago images/Bildbyran
Der dramatische Weckruf kam gleich in der ersten Woche des neuen Jahres: Gewaltsam drang am 6. Januar ein Mob von mehreren Hundert Protestlern in das Washingtoner Kapitol ein und machte mit Baseballschlägern und Elektroschockern Jagd auf die Kongressmitglieder und den Vizepräsidenten, die das Wahlergebnis zertifizieren wollten. Drastischer hätte kein Hollywoodregisseur illustrieren können, wohin vier Jahre der Polarisierung und Hetze unter Donald Trump die USA geführt haben.
Ich werde der Präsident aller Amerikaner sein.
Joe Biden, US-Präsident
Die Spuren des Umsturzversuches, bei dem fünf Menschen ums Leben kamen und 138 Polizeibeamte verletzt wurden, waren erst notdürftig beseitigt, als sich Joe Biden zwei Wochen später zur Amtseinführung von der Freitreppe des Parlaments an die Bevölkerung wandte. „Politik muss kein wütendes Feuer sein, das alles auf seinem Weg zerstört“, mahnte der 78-Jährige. „Nicht jede Meinungsverschiedenheit muss einen totalen Krieg auslösen.“ Er versprach: „Ich werde der Präsident aller Amerikaner sein.“
Ein Ende des Twitter-Bombardements aus dem Weißen Haus, eine Senkung des gesellschaftlichen Fiebers und die Verkleinerung der politischen Gräben – das war es, was sich viele Amerikanerinnen und Amerikaner für 2021 erhofften. Mit Biden hatten sie einen Mann des Ausgleichs und der Versöhnung und mit jahrzehntelanger Erfahrung als Senator und Vizepräsident gewählt. Beachtliche 55 Prozent der Amerikaner zeigten sich mit seinem Start zufrieden.
Nur 42 Prozent der Amerikaner beurteilen Biden positiv
Doch am Ende dieses Jahres ist von Aufbruchstimmung wenig übrig geblieben. Nur noch 42 Prozent der Befragten beurteilen bei Umfragen ihren Präsidenten positiv. Fast zwei Drittel finden, dass ihr Land auf dem falschen Kurs steuert. Gäbe es jetzt eine Direktwahl mit den Kandidaten Biden und Trump, läge der aktuelle Präsident nur noch knapp vor seinem Vorgänger.
Es sind vor allem fünf Entwicklungen, die die vergangenen zwölf Monate in Amerika geprägt haben: Da ist zunächst die Corona-Pandemie, deren Bekämpfung sich als deutlich schwieriger erwies als erwartet. Dann die wirtschaftliche Erholung, die inzwischen weitgehend von Lieferengpässen, einer heftigen Inflation und hohen Benzinpreisen überschattet wird. Der chaotische Afghanistan-Abzug beschädigte Bidens Image als solider Politprofi, während die anhaltende Kampagne zur Diskreditierung der Wahlen seine Autorität und das Vertrauen in die Demokratie untergräbt. In den vergangenen Wochen hat der vor dem Supreme Court ausgetragene Streit über die Abtreibung das Land weiter erhitzt.
Während die Republikaner diese Themen geschickt in ihren rechten Kulturkampf einbinden, wirken die Demokraten oft defensiv. Beim Ringen um die billionenschweren Investitionspakete des Präsidenten nervten sie die Öffentlichkeit mit ihren Flügelkämpfen. Die gewaltigen Finanzspritzen in die marode Infrastruktur und das unterentwickelte Sozialsystem der USA sollten eigentlich zum Markenzeichen einer pragmatischen, überparteilichen Politik Bidens werden. Nach zähen Verhandlungen konnte der Präsident Ende Juni tatsächlich eine Einigung mit einer Gruppe moderater republikanischer Senatoren über ein Ausgabenpaket für Straßen, Schienen und Stromnetze verkünden. „Wir arbeiten über Parteigrenzen zusammen“, sagte Biden strahlend. „Das erinnert mich an die Tage, als wir viel hinbekommen haben im Kongress.“
Die Republikaner schalten auf Blockade
Die Erinnerung sollte bald verblassen. Zwar billigte eine breite Mehrheit im Senat das Infrastrukturgesetz. Doch im Repräsentantenhaus trauten sich gerade noch 13 von 213 Republikanern, mit Ja zu stimmen. Beim Sozial- und Klimapaket haben die Republikaner auf Blockade geschaltet. Sie verhindern auch eine Einwanderungsreform, eine Anhebung des nationalen Mindestlohns und das Bundesgesetz zum Schutz der Wahlen. Derweil ist Biden damit beschäftigt, die hauchdünne Mehrheit seiner Partei zusammenzuhalten, die bei den Kongresswahlen 2022 kippen dürfte.
Der Nationalfeiertag am 4. Juli erscheint als ein Wendepunkt des Jahres. Biden hatte mehr als tausend Gäste in den Garten des Weißen Hauses geladen. Die Corona-Neuinfektionszahlen waren auf einen Tagestiefstwert von 10.000 gefallen, die Wirtschaft lief, die Umfragen waren gut, das überparteiliche Infrastrukturpaket in der Mache. „Wenn wir uns um eine gemeinsame Sache scharen, wenn wir uns nicht als Republikaner und Demokraten sehen, sondern als Amerikaner, dann gibt es einfach keine Grenzen für das, was wir erreichen können“, frohlockte der Präsident.
Abgeordnete verbreiten Verschwörungslegenden
Ein knappes halbes Jahr später sind die USA davon denkbar weit entfernt: Die Infektionszahlen liegen wieder bei 100.000 pro Tag, die Inflation hat den Rekordwert von 6,2 Prozent erreicht. Statt auf Zusammenarbeit setzen die Republikaner auf Konfrontation. 70 Prozent ihrer Wähler glauben immer noch, dass nicht Biden, sondern Trump die Wahl gewonnen hat. Ihre Politiker bereiten in den umkämpften Bundesstaaten durch eine Erschwerung des Zugangs zur Wahlurne alles vor, um ihre Mehrheit bei der nächsten Präsidentschaftswahl zu garantieren. Derweil verbreiten republikanische Abgeordnete in der Pandemie immer abstrusere Verschwörungslegenden, und ihre Gouverneure torpedieren Masken- und Impfvorschriften der Regierung.
Weder die Gefahren für die Gesundheit durch das Virus noch die Bedrohung der Demokratie durch den bewaffneten rechten Mob haben die Amerikaner zusammengeführt. Im Gegenteil: Nach einer Umfrage des renommierten Pew-Instituts halten inzwischen nur noch 39 Prozent von ihnen Diskussionen mit politisch Andersdenkenden für interessant. 59 Prozent der US-Bürger finden solche Gespräche bloß „stressig und frustrierend“.