Abtreibungsstreit in den USA: Showdown vor dem Supreme Court
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Verständigung ausgeschlossen: Gegner und Befürworter der rigiden Antiabtreibungsgesetze im Bundesstaat Texas protestieren während der Anhörung vor dem Obersten Gericht in Washington.
© Quelle: imago images/NurPhoto
Washington. Normalerweise arbeitet sie in der Notaufnahme eines Krankenhauses in Baltimore. Schichtdienst. Ein Knochenjob. Doch an diesem Montag ist Julie Rice frühmorgens ins 50 Kilometer entfernte Washington gefahren. Mit ihrem Arztkittel steht sie vor dem Supreme Court, dem Obersten Gericht der USA, und hält ein Plakat hoch. „Abortion is Healthcare“ (Schwangerschaftsabbruch gehört zur medizinischen Versorgung) hat sie darauf geschrieben.
Rice redet mit der ruhigen Stimme einer Wissenschaftlerin. Aber innerlich ist sie aufgebracht. „Das wird furchtbare Auswirkungen auf die ganze Gesellschaft haben“, glaubt die Juniorprofessorin fest. „Das“ ist das neue texanische Abtreibungsrecht, das der Trump-freundliche republikanische Gouverneur Greg Abbott gleichermaßen inhaltlich rigide wie juristisch perfide konzipiert hat: Seit dem 1. September sind Abtreibungen bereits nach der sechsten Woche im zweitgrößten Bundesstaat der USA verboten. Wer einen Verstoß erfolgreich zur Anzeige bringt, wird mit einer Prämie von 10.000 Dollar belohnt.
„De facto sind die Frauen nicht mehr in der Lage, eine freie Entscheidung zu fällen.“ Ärztin Julie Rice ist eigens von Baltimore in die Hauptstadt gekommen, um zu protestieren.
© Quelle: Karl Doemens
„Sechs Wochen sind eine aberwitzige Frist“, sagt Rice: „Die meisten Frauen wissen zu dieser Zeit noch gar nicht, dass sie schwanger sind.“ Betroffen seien zudem vor allem sozial schwächere Menschen, die sich keinen Flug ins benachbarte Mexiko leisten können, wo Abtreibungen gerade entkriminalisiert worden sind: „De facto sind diese Frauen nicht mehr in der Lage, eine freie Entscheidung zu treffen, selbst wenn ihre Schwangerschaft die Folge einer Vergewaltigung ist.“
„Fuck Texas!“ steht auf einem Plakat
Während sich Rice mit dem Reporter unterhält, hallen die Stimmen mehrerer Verfassungsrichter über die Freitreppe vor dem Gerichtsgebäude mit seinem eindrucksvollen weißen Säulenportal. Hinter verschlossenen Türen wird dort verhandelt, ob zwei Klagen gegen das texanische Gesetz zugelassen werden. Per Lautsprecher wird die Anhörung nach draußen übertragen.
Auf der linken Seite vor der Treppe, wo auch Rice steht, haben sich hinter einer Absperrung die Kritiker des Abtreibungsverbots versammelt. „Fuck Texas!“ oder „Defend your body“ (Verteidige deinen Körper) steht auf ihren Schildern. Ein paar Meter weiter rechts demonstrieren in roten T-Shirts die Lebensschützer.
„Lasst ihre Herzen schlagen!“, skandieren die Pro-Life-Aktivisten über ein Megafon. Sofort antworten die Vertreter der Wahlfreiheit mit Gegenparolen. Die Stimmen der Richter kann man nicht mehr verstehen. Die Szene wirkt symbolhaft für die aufgeheizte Stimmung in Amerika. „Es gibt kaum noch vernünftige Debatten mit dem Ziel einer Lösung“, beklagt Rice: „Wer Aufmerksamkeit erzielen will, muss polarisieren. Und unglücklicherweise ist der allgemeine Zugang zur Familienplanung ein solcher Trigger.“
Als Nächstes steht das Recht von Mississippi auf dem Prüfstand
Entsprechend aufgeladen ist derzeit die Stimmung nicht nur vor dem Supreme Court. Dem Land stehe der dramatischste Monat im Kampf um die Fortpflanzungsrechte seit drei Jahrzehnten bevor, prophezeit die „Washington Post“. Die Anhörung zum texanischen Abtreibungsbann ist nur der Auftakt. Am 1. Dezember steht eine Verhandlung über das neue Recht in Mississippi auf dem Plan, das Schwangerschaftsabbrüche ab der 15. Woche verbietet. Sollten diese beiden restriktiven Vorlagen vor dem mehrheitlich konservativen Verfassungsgericht Bestand haben, wäre das bisher bundesweit geltende liberale Abtreibungsrecht in den USA damit Geschichte.
Eigentlich schien der Streit mit dem berühmten Urteil Roe v. Wade von 1973 entschieden. Damals und in einem weiteren Urteil von 1992 wurden Versuche von Bundesstaaten, Abtreibungen zu verbieten, zurückgewiesen und das Recht auf Schwangerschaftsabbruch bis zur 24. Woche im Rahmen der Privatsphäre garantiert. Über diese Vorgabe hat sich Texas nun trickreich hinweggesetzt.
Es verbietet zwar Abtreibungen schon ab der sechsten Woche, verfolgt Verstöße aber nicht von Amts wegen. Vielmehr werden Privatleute mit einer Geldprämie ermuntert, diese zur Anzeige zu bringen. Der Effekt ist der gleiche: Um rund 50 Prozent sind die Abtreibungen in dem Bundesstaat zurückgegangen. Vielen Ärzten und Kliniken ist das teure Prozessrisiko zu hoch.
Mit dem Verzicht auf eine aktive staatliche Ahndung hat Texas bewusst eine Grauzone geschaffen, die das Einlegen von Rechtsmitteln erschwert. Vor dem Supreme Court geht es daher derzeit zunächst um die formale Frage, ob zwei Klagen – von Kliniken und der Biden-Regierung – dagegen überhaupt zugelassen werden. Normalerweise dauert es Monate oder Jahre, bevor solche Verfahren behandelt werden. Bemerkenswerterweise hat das Verfassungsgericht, nachdem es das texanische Gesetz im September mit fünf zu vier Stimmen passieren ließ, die Anhörung nun extrem kurzfristig innerhalb von zehn Tagen angesetzt.
Überraschende Zweifel bei zwei Trump-Richtern
Beobachter sehen darin Anzeichen eines Sinneswandels bei einem oder zwei der neun Richter, die sich bei der dreistündigen Anhörung am Montag zu bestätigen scheinen. Mehrfach hinterfragen die von Ex-Präsident Donald Trump berufenen konservativen Richter Brett Kavanaugh und Amy Coney Barrett skeptisch das juristische Konstrukt des texanischen Gesetzes. „Es gibt ein Schlupfloch, das hier genutzt oder ausgenutzt wurde“, stellt Kavanaugh fest. Das nährt die Hoffnung, dass der Supreme Court sich des Paragrafenwerks kritisch annehmen wird. Eine Entscheidung in der Sache aber wäre das noch nicht.
Notärztin Rice mag sich gar nicht vorstellen, was passieren würde, wenn Texas mit seinem Gesetz am Ende durchkommt. Andere republikanische Bundesstaaten würden schnell folgen. Das dürfte dazu führen, dass viele Frauen hilfesuchend in das liberale Maryland und dessen Metropole Baltimore kämen: „Unsere Klinik wäre rasch überlastet. Viele Frauen müssten lange warten“, fürchtet die Medizinerin.
Noch schlimmer findet Rice die Vorstellung, dass ungewollt Schwangere dann aus Verzweiflung im Internet nach Lösungen für ihr Problem suchen. „Ältere Kolleginnen mussten noch mitansehen, wie Frauen nach unprofessionell durchgeführten Schwangerschaftsabbrüchen starben“, sagt Rice: „Das möchte ich auf keinen Fall erleben.“