Urteil mit Sprengkraft in Bolivien: Zehn Jahre Haft für Ex-Interimspräsidentin
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Die ehemalige Interimspräsidentin von Bolivien, Jeanine Anez, steht hinter Gittern und spricht in einem Polizeigefängnis in La Paz (Bolivien) mit einer Frau (Archivbild).
© Quelle: Juan Karita/AP/dpa
La Paz. Einen „Feigling“ nennt die Familie der verurteilten Ex-Interimspräsidentin Jeanine Anez den Ex-Präsidenten Evo Morales (2006 – 2019). Der Sozialist und Anführer der Kokabauern in Bolivien hatte kurz zuvor das Urteil von zehn Jahren Haft gegen Anez als angemessen begrüßt, sie habe der Demokratie schweren Schaden zugefügt.
Die aktuelle sozialistische Regierung will sogar noch mehr und erwägt, in die Berufung einzugehen: 15 Jahre Haft seien angemessen. Die Familie von Anez dagegen fordert einen Freispruch. Viel weiter auseinander können die Sichtweisen nicht liegen.
Fakt ist: Das Land kommt seit sechs Jahren nicht mehr zur Ruhe. Im Jahr 2016 hatte Morales sein Volk per Referendum um eine Verfassungsänderung gebeten, die eine Amtszeitverlängerung und damit auch seine weitere Kandidatur bei den Wahlen 2019 ermöglichen sollte. Doch die Bolivianer sagten Nein zu Morales Wunsch. Trotz seines Versprechens, das Wahlergebnis zu akzeptieren, brach Morales sein Wort, setzte seine Kandidatur gegen den Willen seines Volkes auf juristischem Wege durch und kandidierte 2019 erneut.
Hunderttausende gingen auf die Straße
War die Lage bis dahin schon vergiftet, kam es bei diesem Wahlgang endgültig zur Eskalation: Beobachter der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) sprachen von Verdachtsfällen des Wahlbetruges, Hunderttausende gingen auf die Straße, Morales trat auf Druck verschiedener gesellschaftlicher Gruppen sowie des Militärs zurück.
Inzwischen spricht Morales von einem Putschversuch. Beide Seiten – damalige Regierung und Opposition – sowie Wahlbeobachter haben verschiedene Studien vorgelegt, die die jeweils eigene Interpretation bestätigen. Die Wut von Morales aber konzentrierte sich fortan auf Jeanine Anez, die nach seinem Rücktritt als Interimspräsidentin die Macht übernahm. Unrechtmäßig sei dies gewesen, ein Staatsstreich, sagt Morales heute.
Zudem wird der konservativen Politikerin vorgeworfen, für die Toten am Rande von blutigen Protesten verantwortlich zu sein. Solche Vorfälle habe es auch während der Morales-Amtszeit gegeben, diese werden aber nicht juristisch verfolgt, kritisiert die Opposition.
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Das Chaos schien eigentlich schon beseitigt
Tatsächlich führte die konservative Politikerin die Amtsgeschäfte in den wenigen Monaten schlecht, erledigte ihre wichtigste Aufgabe aber inmitten der gerade begonnenen Corona-Pandemie weitgehend tadellos: Die nach dem Rücktritt von Morales notwendig gewordenen Neuwahlen. Die gewann das Morales-Lager klar – diesmal allerdings mit dem heutigen Präsidenten Luis Arce als Spitzenkandidaten.
Anez übergab die Macht, gratulierte dem Wahlsieger und zog sich in die zweite Reihe zurück. Das Chaos schien beseitigt, die Machtverhältnisse auf demokratischem Wege wieder in Ordnung gebracht. Eigentlich.
Doch nun geriert Anez zur Hassfigur des Morales-Lagers, der seine Sichtweise der Krisenjahre unbedingt bestätigt sehen wollte, weil sie ihm eine neue Machtoption eröffnet. Am Freitag wurde sie von einem Gericht wegen „verfassungswidriger Entscheidungen und Pflichtverletzungen“ zu zehn Jahren Haft verurteilt. Menschenrechtsorganisationen und die Kirche hatten zuvor ein „objektives Urteil“ und juristische Unabhängigkeit angemahnt.
Ich wurde verhaftet für einen Putsch, den es nie gegeben hat.
Ex-Interimspräsidentin Jeanine Anez
Anez selbst sagt: „Ich wurde verhaftet für einen Putsch, den es nie gegeben hat.“ Sie habe ihre verfassungsmäßige Aufgabe übernommen, „nachdem der Feigling geflohen sei“, twitterte sie und spielte damit auf die Flucht von Morales aus Bolivien nach seinem Rücktritt an.
Evo Morales könnte profitieren
Die Opposition kündigte für die kommende Woche Proteste an: „Wir werden Mobilisierungen starten“, sagte Manuel Morales vom Nationalen Komitee für die Verteidigung der Demokratie (Conade). Vor allem für den amtierenden Präsidenten Arce könnte die Situation unangenehm werden. Juristen sehen durch das Urteil nämlich auch seine Wahl potenziell anfechtbar, denn sie ist ja nun durch eine Interimspräsidentin durchgeführt worden, die laut Urteil verfassungswidriges Verhalten an den Tag legte.
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Ex-Präsident von Bolivien, Evo Morales, könnte von chaotischen Wochen in dem lateinamerikanischen Land profitieren (Archivbild).
© Quelle: Getty Images
Schon jetzt kritisiert Morales seinen Parteifreund und Präsidenten scharf, geht Minister aus dem eigenen sozialistischen Kabinett an. Sollte es in den nächsten Wochen zu chaotischen Verhältnissen in Bolivien kommen, könnte der Ruf nach einem starken Mann immer lauter werden: Und der heißt Evo Morales.
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