Ursula von der Leyens größte Hürde ist die Uneinigkeit der EU
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Die designierte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat Großes vor. Ebenfalls groß sind jedoch die Hürden, vor denen sie steht.
© Quelle: Thierry Roge/BELGA/dpa
Leitartikel. Europa hübscht sich auf. Am Berlaymont-Gebäude im Brüsseler Europaviertel, in dem demnächst Ursula von der Leyen als neue Präsidentin der EU-Kommission unter der Woche arbeiten und auch leben wird, entsteht ein neuer Besucherpavillon. Es sieht nach Aufbruch aus, nach einem Neubeginn. Das ist ganz im Sinne der ehemaligen deutschen Verteidigungsministerin. Sie will endlich Gas geben können. Das sagen nicht nur ihre Vertrauten. Selbst politische Gegner wollen, dass sich die künftige Chefin der großen EU-Behörde so schnell wie möglich in die Arbeit stürzen kann.
Doch Ursula von der Leyen hat noch einige Hürden zu nehmen, bevor sie als erste Deutsche seit mehr als 50 Jahren die Hauptgeschäftsstelle der EU übernehmen kann. Und die meisten von ihnen hat sie nicht selbst aufgestellt, sondern übernommen. Die Baustelle vor dem Berlaymont in Brüssel ist dabei das geringste Problem.
London will nicht mitspielen
Die Briten wollen – wieder einmal – nicht mitspielen und keinen Kommissar nach Brüssel schicken. Das allein könnte zwar den Amtsantritt von der Leyens wahrscheinlich nicht verzögern. Doch das Europaparlament bestätigte am Donnerstag den ungarischen Ersatzkandidaten für das Amt des Erweiterungskommissars nicht. Erst nächste Woche wird sich zeigen, ob von der Leyen am 1. Dezember die Arbeit aufnehmen kann.
London hält sich also wieder einmal nicht an die Regeln. Das mag aus britischer Sicht sogar logisch sein, schließlich will Großbritannien die EU spätestens am 31. Januar kommenden Jahres verlassen. Doch die EU betritt juristisches Neuland, denn den Regeln nach muss jedes Mitgliedsland einen Kommissar benennen. Es ist gut, dass die Kommission noch einen juristischen Trick gefunden hat, mit dem sie den Amtsantritt von der Leyens am 1. Dezember sichern könnte. Doch auch eine Verschiebung um einen Monat wäre relativ unbedeutend. Es gibt schließlich eine funktionierende Kommission.
Regelverstöße als neue Normalität
Schlimmer ist, dass Londons Weigerung die These bestätigt, dass mittlerweile der Verstoß gegen Regeln und Usancen in der EU zur Normalität geworden ist. Die Ungarn machen das, die Polen und auch die deutsche Bundesregierung. „Nichts muss bleiben, wie es ist“, hat Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) vor dem Europaparlament in Brüssel gesagt, als er über den Fall der Berliner Mauer vor 30 Jahren sprach. In der Tat. Nichts ist von Dauer, auch die EU nicht.
Viele wichtige Akteure in vielen wichtigen EU-Mitgliedsstaaten stellen derzeit nicht unter Beweis, dass ihnen die Zukunft Europas allzu sehr am Herzen liegt. Die GroKo in Berlin etwa will sich die Extrakosten für die EU sparen, die durch den Austritt Großbritanniens entstehen. Nun gut, über Geld wurde in Brüssel schon immer leidenschaftlich gestritten, und bis zur Verabschiedung des nächsten mehrjährigen Haushalts ist es noch eine Weile hin. Aber es wäre doch ein gutes Signal vor allem an die Knausrigen in der EU, würde die Bundesregierung das Feilschen lassen, sich hinstellen und sagen: Europa kostet viel Geld, aber es ist gut angelegtes Geld.
Da ist Emmanuel Macron, der selbst ernannte, forsche Erneuerer der EU. Aus Angst, die Kommunalwahlen im nächsten Frühjahr gegen die Rechtsextremisten von Marine Le Pen zu verlieren, blockiert der französische Präsident die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Nordmazedonien und Albanien. Das ist ein Fehler von historischer Dimension, das Gegenteil von glaubwürdiger Politik.
Die EU braucht Einigkeit
Zwischen Deutschland und Frankreich läuft es nicht mehr rund. Wenn sich aber die beiden größten Mitgliedsstaaten der EU nicht einig sind, dann wird das auch direkt von der Leyens Arbeit beeinflussen. Das letzte Wort in der EU haben die Staats- und Regierungschefs, die – wie beschrieben – ihre nationalen Interessen im Zweifel über europäische Interessen stellen. Das gilt für Angela Merkel und Emmanuel Macron gleichermaßen.
So war es zwar immer schon in der Geschichte der EU. Nur waren die Zeiten selten so turbulent und selten war die EU so zerstritten wie heute.
Ursula von der Leyen hat viele Ideen. Sie möchte eine „geopolitische Kommission“ anführen, die Europa mehr Einfluss in der Welt verschafft. Sie will innerhalb von 100 Tagen nach Amtsantritt einen Green New Deal und bis zur Mitte kommenden Jahres ein belastbares Konzept für eine gemeinsame europäische Migrationspolitik schaffen.
Die Ideen sind gut, doch die EU ist in einer schlechten Verfassung. Nach innen schwinden ihre Bindekräfte und von außen warten die USA, Russland, die Türkei und China nur auf ein Scheitern des Projekts.