Ursula von der Leyen will Europa die Sprache der Macht beibringen

Ursula von der Leyen beim Kongress der Europäischen Volkspartei in Zagreb.

Ursula von der Leyen beim Kongress der Europäischen Volkspartei in Zagreb.

Zagreb/Brüssel. Den Namen müssen manche in Europa noch üben. Als die Moderatorin beim Kongress der Europäischen Volkspartei in Zagreb die nächste Rednerin ankündigt, sagt sie: „Heißen Sie Ursula vor der Leyen willkommen.“ Vor, nicht von. Macht nichts. Ursula von der Leyen tänzelt in einem rosafarbenen Blazer auf die Bühne der gewaltigen Mehrzweckarena in der kroatischen Hauptstadt. Und schon ist Applaus in der Halle zu hören. Zu sehen ist wenig. Ein eigenwilliger Parteitagsregisseur hat die Arena äußerst sparsam ausgeleuchtet.

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Ursula von der Leyen hat es fast geschafft. Sechs Tage noch, dann ist sie die mächtigste Frau Europas. Sie hat die fünf Monate Wartezeit bis zu diesem Tag, ihrer Amtseinführung als Präsidentin der Europäischen Kommission am 1. Dezember, gut genutzt. Es redet kaum einer mehr davon, dass Ursula von der Leyen eigentlich zweite Wahl war. Dafür ist sie zu umgänglich. Und vielleicht im richtigen Moment zu hart.

Ursula von der Leyen wirkt, als sei sie endlich am richtigen Ort angekommen. Genau den Eindruck will sie auch erwecken. Sie taucht unangemeldet in Behörden auf, plaudert mit Mitarbeitern. Sie ist auf einmal mitten im Kreis des Frauennetzwerks der Kommission zu finden. Sie lässt sich beraten, hört zu, nimmt Ratschläge ernst.

Und sie sagt den von Brexit-Verhandlungen und Europaskeptikern gebeutelten EU-Mitarbeitern Sätze wie diesen: „Europa muss die Sprache der Macht lernen.“ Europas Partner und seine Konkurrenten, so ließ die designierte Kommissionspräsidentin in einer Rede Anfang November wissen, müssten sich auf härtere Positionen der EU einstellen. Diese werde ihre Kraft künftig nutzen, um europäische Interessen durchzusetzen.

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Vielleicht ist es aber ganz einfach dieses, was den Ruf der Deutschen, die einst von ihrer Parteifreundin Angela Merkel und dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron als Kandidatin aus dem Hut gezaubert wurde, in Brüssel gefestigt hat: Sie arbeitet hart.

Ursula von der Leyen, CDU-Politikerin und vor Kurzem noch Verteidigungsministerin, ist die erste Frau, die das Präsidialbüro im 13. Stock des Berlaymont-Gebäudes im Brüsseler Europaviertel beziehen wird. Und sie ist die erste Deutsche seit mehr als einem halben Jahrhundert an der Spitze der EU-Kommission.

Noch muss das Europaparlament in Straßburg ihr Team bestätigen, aber es zeichnet sich eine klare Mehrheit für die Abstimmung an diesem Mittwoch ab. Die Mitgliedsstaaten haben ihre Vorschläge für die Besetzung der neuen Kommission bereits gebilligt. Entsprechend vergnügt fällt von der Leyens Rede beim Kongress der Europäischen Volkspartei in Zagreb aus. An deren Ende wird sie sagen, ihr werde mit diesem Amt „die Ehre meines Lebens“ zuteil.

Als Kommissionspräsidentin ist die 61-Jährige Chefin der 35.000 Angestellten der wichtigsten Behörde in der EU. Sie verdient mit 335.000 Euro brutto im Jahr mehr als die Bundeskanzlerin. Doch im Zweifel sagen die Staats- und Regierungschefs, wohin es gehen soll. Auch gegen den Willen der Kommissionspräsidentin und ihres Teams.

„Fast ein bisschen calvinistisch“

Zu den Verbündeten der neuen Präsidentin zählt David McAllister. Er hat ein Foto von Ursula von der Leyen an eine Wand in seinem Büro im EU-Parlamentsgebäude gehängt. Es stammt von Anfang 2003. Von der Leyen sieht im Prinzip heute immer noch so aus wie damals. Ihr Haar ist etwas kürzer, ihre Blazer sind moderner. Damals war die Tochter des früheren niedersächsischen Regierungschefs Ernst Albrecht gerade Sozialministerin in Hannover geworden. Zweieinhalb Jahre machte sie den Job. Dann ging sie nach Berlin, wurde Sozialministerin, Arbeitsministerin, übernahm schließlich das Verteidigungsressort. McAllister sitzt seit 2014 im Europaparlament.

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

„Ursula von der Leyen“, sagt er, „hat eine extrem hohe Auffassungsgabe. Sie ist im wahrsten Sinne des Wortes bienenfleißig.“ Der Parteikollege ist voll des Lobes. Von der Leyen spricht die drei wichtigsten Sprachen der EU fließend – Deutsch natürlich, aber auch Englisch und Französisch. „Sie beherrscht das internationale Parkett, macht sich aber gleichzeitig nichts aus Stehempfängen“, sagt McAllister. Sie möge keine Geschwätzigkeit, sei nicht volksnah im klassischen Sinn, nicht mit jedem sofort dicke, dabei aber unprätentiös. „Das ist schon fast ein bisschen calvinistisch“, sagt David McAllister. Aber es sei jedenfalls ein Erfolgsmodell. „Sie war schließlich 14 Jahre lang Bundesministerin in Berlin.“

Vertraute von der Leyens erzählen gern die Geschichte, dass ihre Chefin sich frühmorgens an den Schreibtisch setze, konzentriert bis in den späten Abend arbeite, dann gewissermaßen nach hinten aufs Bett kippe und schlafe. Am nächsten Werktag gehe es geradeso weiter. Alkohol, das Schmiermittel vieler Spitzenpolitiker, trinkt sie nicht. Wenn sie es mal krachen lassen wolle, dann nehme sie Mineralwasser mit Sprudel, scherzt einer, der sie seit Jahren kennt.

Ursula von der Leyen hat feste Regeln. Die Wochenenden sind, meist, für die Familie in Niedersachsen reserviert. Da schaltet sie ab, vergisst die Politik. Das hat von der Leyen schon in Berlin so gehalten. Das wird sie auch in Brüssel nicht ändern, sagen Vertraute.

Im geschwätzigen Brüsseler EU-Betrieb, in dem die Zahl der Neider schier grenzenlos ist, ist das aufgefallen. „Aber glauben Sie etwa, dass Jean-Claude Juncker jedes Wochenende in Brüssel verbracht hat?“, sagt McAllister. „Natürlich nicht.“ Juncker hat nur einen kürzeren Heimweg. Nach Luxemburg sind es gerade einmal zwei Stunden. Nach Hannover sind es mit dem Zug mindestens fünf.

Erfolg dank „Bunkerstrategie“?

Noch arbeitet von der Leyen in einem schlichten Büro im Charlemagne-Gebäude, das im Schatten des EU-Hauptquartiers liegt. Dort lässt sie jeden Morgen gegen 9 Uhr ihre Mitarbeiter im wahrsten Sinne des Wortes antreten. Zwölf bis 15 Frauen und Männer sind es, die sich in der Übergangsperiode bis zum 1. Dezember in Form eines Hufeisens aufstellen. 15 bis 20 Minuten dauert die Besprechung. Alle stehen. Es soll sich niemand bequem im Bürostuhl wegducken können. Und alle sollen sich kurzfassen.

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

Gegen 18 Uhr wird der Tag wieder mit einer Stehrunde beschlossen. Wer Kinder hat, kann nach Hause gehen. Das hat von der Leyen, Mutter von sieben Kindern, als Assistenzärztin auch so gehalten.

Sie selbst arbeite an den Abenden weiter, heißt es. Sie feilt an Reden und bespricht mit künftigen Kommissarinnen und Kommissaren die Grundlinien ihrer Politik. Das geschieht seit Monaten relativ geräuschlos. Die französische Zeitung „Libération“ beklagte Mitte September, dass Ursula von der Leyen eine „Bunkerstrategie“ verfolge. Wenn es denn stimmt, hat es einen Grund: Sie ist offiziell noch nicht im Amt.

Erst am 1. Dezember darf sie ihr Büro im obersten Stockwerk des Berlaymont beziehen. Es sieht ein bisschen aus wie die Brücke eines Supertankers, den Kapitänin von der Leyen demnächst steuern soll. Gleich daneben liegt ihre Montag-bis-Freitag-Wohnung, rund 25 Quadratmeter groß. Das ist immerhin mehr Privatraum als im Berliner Verteidigungsministerium, dort waren es nur sieben Quadratmeter. Ursula von der Leyen hat sich verbessert.

An einem Dienstagnachmittag im Oktober hat die kommende EU-Chefin ein paar Journalisten zum Hintergrundgespräch in ein kleines Büro im Straßburger Europaparlament eingeladen. Die Berichterstatter dürfen sitzen. Sie selbst lehnt locker an einem Heizkörper vor dem Fenster. Sie bringt das Kunststück zustande, zeitgleich entspannt und konzentriert zu wirken. Von der Leyen gibt sich sehr optimistisch, dass all ihre Pläne aufgehen werden. An diesem Tag weiß sie allerdings noch nicht, dass sie ihr Ziel, die Kommission mit genauso vielen Frauen wie Männern zu besetzen, nicht erreichen wird.

Und wie bei ihrer Nominierung ist es wieder der französische Präsident, der einen Teil der Verantwortung dafür trägt. Nachdem seine erste Kandidatin für die Kommission von den Europaabgeordneten nach Hause geschickt worden ist, kommt als Ersatz ein Mann. Und weil Großbritannien sich wegen des bevorstehenden Brexits weigert, über einen neuen EU-Kommissar nachzudenken, und gar keinen schickt, sind es jetzt einschließlich der Präsidentin zwölf Frauen und 15 Männer. Wenn man will, ist dieses Ungleichgewicht die erste Niederlage der ehrgeizigen Politikerin.

„Ursula von der Leyen hat sich viel vorgenommen, aber die Sache vielleicht ein wenig unterschätzt“, sagt der deutsche Europaabgeordnete Bernd Lange von der SPD. In den ersten 100 Tagen ihrer Amtszeit will die Präsidentin einen Green New Deal samt Klimakonzept vorlegen. Im ersten Halbjahr 2020 soll ein Migrationsplan folgen. Sie will eine „geopolitische Kommission führen“. Erste Ansätze neuen Machtbewusstseins?

Weiterlesen nach der Anzeige
Weiterlesen nach der Anzeige

„Mit Herz und Seele“ für Europa

Ob sie das schaffen kann, ist unklar. Sie ist aber eine gewiefte Taktikerin. Mit dem Klimaschutz und der Digitalisierung, zwei wichtigen Themen auf ihrer Agenda, hat sie vorsichtshalber Kommissare beauftragt, die nicht der Europäischen Volkspartei angehören. Das könnte ihr im Zweifel Manövrierraum im Umgang mit dem Parlament geben.

Doch das ändert nichts daran, dass von der Leyen künftig in ein komplexes System eingezwängt ist. Die Kommission überwacht die Einhaltung der EU-Verträge. Im Europaparlament wird sie sich Mehrheiten suchen müssen. Das musste ihr Vorgänger nicht. Und die wichtigsten Entscheidungen fällen die Staats- und Regierungschefs, die oft nationales Interesse über das der EU stellen. Immerhin hat Bundeskanzlerin Merkel vor ein paar Tagen erklärt: „Ich werde versuchen, etwas Kompromissbereitschaft mitzubringen, wenn wir uns beim Europäischen Rat treffen.“ Wie es aber etwa Macron mit der Kompromissbereitschaft halten wird, das lässt sich noch nicht sagen.

Ursula von der Leyen ist in Brüssel aufgewachsen und nach Brüssel zurückgekehrt. Sie pflegt gern den Eindruck, als schließe sich ein Kreis. Beim Parteitag der europäischen Konservativen in Zagreb sagt sie, sie wolle sich „mit Herz und Seele“ für Europa einsetzen. Dabei kreuzt sie in einer Art Demutsgeste die Hände über der Brust. Auch Demutsbekundungen können eine machtvolle Sprache sein.

Mehr aus Politik

 
 
 
 
 
Anzeige
Anzeige

Letzte Meldungen

 
 
 
 
 
 
 
 
 

Spiele entdecken