Und jährlich grüßt der Corona-Winter
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Jens Spahn (CDU), geschäftsführender Bundesgesundheitsminister, steht in der Kritik.
© Quelle: Karl-Josef Hildenbrand/dpa
Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser,
in Film, Fernsehen und Theater werden wir häufig durch drei Phasen einer Geschichte geführt:
- Wir bauen eine Verbindung zu den Protagonistinnen und Protagonisten auf. Oft entsteht diese Nähe durch eine Leidensgeschichte.
- Dann Reflexion. So kann es nicht weitergehen. Fehler der Vergangenheit werden aufgearbeitet. Konflikte bahnen sich an.
- Am Ende steht die Erkenntnis, die viel zitierte Moral von der Geschichte.
Wäre die Pandemie in Deutschland ein Film, wir hätten den Kinosaal längst verlassen. Kopfschüttelnd. Der Streifen wäre unnötig lang, die Genese der Figuren eindimensional und der Plot schlicht unrealistisch. Warum? Wir sind ziemlich gut darin, Punkt zwei und drei zu ignorieren.
Die Berliner Charité schlägt pünktlich zur kälteren Jahreszeit wieder Alarm. Die Intensivbetten füllen sich „in beängstigender Geschwindigkeit“, sagt Jörg Pawlowski, Vorsitzender des Klinikpersonalrats. 2500 von 3000 Betten seien mittlerweile ausgelastet. Aktuell behandle die Charité insgesamt 50 Frauen und Männer wegen Corona. Der bisherige Höchstwert lag demnach im vergangenen Winter bei 160 Intensivpatientinnen und Intensivpatienten. Auch im Südosten Deutschlands ist die Situation wieder sehr angespannt.
Jetzt davon zu sprechen, dass es genauso schlecht läuft wie in den vergangenen beiden Herbstsaisons, wäre natürlich falsch. Denn sie ist schlechter. Heute haben wir weniger Intensivpflegerinnen und ‑pfleger. „Hintergrund sind erschöpfte Kolleginnen und Kollegen, die wegen des Dauerstresses krank wurden oder den Job gewechselt haben“, berichtet Pawlowski den Kollegen vom „Tagesspiegel“. Die verbliebenen 500 Betten in der Charité werden leer bleiben müssen.
Und so stehen wir – mal wieder – vor der Frage: Wie konnte es so weit kommen?
Die Entscheidung der Bundesregierung, die Corona-Tests entgegen dem Rat von Fachleuten kostenpflichtig zu machen, hat rückblickend sicher nicht zur Besserung der aktuellen Lage beigetragen. „Besonders beunruhigt mich, dass wir das Infektionsgeschehen seit Abschaffung der kostenlosen Tests nur noch sehr schlecht erfassen“, erklärt der Bonner Virologe Hendrik Streeck im RND-Gespräch.
Verwirrung statt Aufklärung
Nochgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) hat es zudem bis heute nicht geschafft, eine durchschlagskräftige Impfkampagne auf die Beine zu stellen. Wie die Öffentlichkeit über Booster-Impfungen informiert wird, ist besonders unkoordiniert und widersprüchlich. Wer darf sich nun „boostern“ lassen? Alle minderjährigen Rentner über 50 Jahre? Das hätte man zwischendurch meinen können, so verwirrend waren die Aussagen und Empfehlungen von Spahn, den Ärzten und der Stiko dazu. Wer immer noch nicht weiß, ob er sich den dritten Stich holen darf, findet hier übrigens Antworten.
Wo sind die Politiker, die in Krisenzeiten Orientierung geben, Regeln umsetzen und verständlich kommunizieren? Man wird sie in Zeiten zwischen verlorenen Wahlkämpfen und Koalitionsverhandlungen nicht finden.
Dieses politische Versagen hat Konsequenzen. Die Stimmung in Deutschland ist schlecht. Die Corona-Leugner-Szene wird radikaler, immer öfter werden Impfärzte angegriffen. Verschwörungstheorien um die Corona-Impfung haben im Vergleich zu anderen Ländern Hochkonjunktur, wie RND-Korrespondenten aus aller Welt berichten. Geimpfte werden derweil unvorsichtig, da sie sich oft nicht mehr als Teil der Pandemie fühlen, und Ungeimpfte bleiben vor allem das: ungeimpft.
Das Beispiel Österreich zeigt, wie streng die Regeln offenbar sein müssen, um Menschen jetzt noch zu einer Impfung bewegen zu können. Die 2G-Regel für Lokale, Friseure und Veranstaltungen gilt im Nachbarland ab morgen bundesweit. Am Arbeitsplatz gilt die 3G-Regel. Ist die Inzidenz zu hoch, gibt es in den betroffenen Bezirken Ausreisekontrollen. Um die Booster-Imfpung anzukurbeln, wird nach neun Monaten der Impfstatus von geimpften Personen annulliert. Der österreichische Boulevard schreibt bereits vom „Schnitzel-Lockdown“. Das Ergebnis: Lange Schlangen vor Impfzentren und Impfbussen im ganzen Land, also jenen Einrichtungen, die in Deutschland zu großen Teilen wieder geschlossen wurden.
Es bleibt abzuwarten, wie lange es noch dauert, bis auch für Geimpfte angesichts von Impfdurchbrüchen und politischer Schläfrigkeit wieder Maßnahmen diskutiert werden, schreibt RND-Redakteur Sven Christian Schulz in seinem Kommentar.
Und ja, das klingt wie ein schlechter Film.
Zitat des Tages
Ich lasse mir heute Zeit.
Thomas Gottschalk
, Moderator von „Wetten, dass ...?“, prophezeite bereits zu Beginn der Sendung, dass er wie üblich überziehen würde. Er sollte recht behalten.
Noch einmal war gestern Abend Thomas Gottschalk Gastgeber einer vielstündigen „Wetten, dass ...?“-Sonderausgabe im ZDF. Mein Kollege Imre Grimm hat sie sich angesehen und resümiert: Die Sehnsucht nach einem vermeintlich besseren Gestern ist groß.
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Forscher aus Hannover haben nach eigenen Angaben ein wirksames Mittel gegen Coronaviren im Frühstadium der Infektion gefunden, berichtet die „Hannoversche Allgemeine“. Bisher wurde der Wirkstoff bei Bauchspeicheldrüsenentzündungen verwendet.
Termine des Tages
In Bayern gelten von heute an verschärfte Corona-Regeln. Grund dafür ist die hohe Zahl belegter Intensivbetten. Zutritt zu Gasthäusern und Veranstaltungen in geschlossenen Räumen haben dann nur noch Geimpfte, Genesene und Menschen mit negativem PCR-Test. Ein Antigen-Schnelltest reicht nicht mehr. Außerdem muss generell wieder eine FFP2-Maske getragen werden.
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Wer heute wichtig wird
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Heinrich Bedford-Strohm, Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), steht bei der heutigen Synode im Fokus. Auf der Jahrestagung steht etwa die Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs in der evangelischen Kirche auf der Tagesordnung. Außerdem will man sich beraten, wer am kommenden Mittwoch zu Bedford-Strohms Nachfolgerin oder Nachfolger gewählt werden könnte. Wegen der aktuellen Pandemielage wird die Synode nun doch digital abgehalten.
© Quelle: Peter Endig/dpa-Zentralbild/dpa
Der Podcast des Tages
Über diese Themen sprechen Wolfgang Bosbach und Christian Rach in dieser Woche: Hat die Abschaffung kostenloser Schnelltests die Corona-Lage verschärft? Wer gehört an die Spitze von CDU und SPD? Und: Sollte der „Booster“ ab sofort für alle freigegeben werden? Hören Sie hier rein.
„Der Tag“ als Podcast
Die News zum Hören
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Ihr Alexander Krenn
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