Kommentar

Putin, der Versager

Russlands Staatschef Wladimir Putin zeigte sich am Wochenende in Moskau an der Seite von Bürgermeister Sergei Sobyanin und eröffnete – während seine Soldaten in der Ukraine in Bedrängnis gerieten wie noch nie – ein Riesenrad: „140 Meter hoch, so etwas gibt es in Europa nicht!“.

Noch nie in ihrer Geschichte hat die russische Armee ein so peinliches Bild abgegeben wie in diesen Tagen. Schon Ende März sah es nicht gut aus, da wollte den Russen die Eroberung Kiews partout nicht gelingen. Wladimir Putins Offiziere hatten schon ihre Paradeuniformen mitgebracht – doch ihr Militärkonvoi wurde zu einem grotesken 60 Kilometer langen Stau, der dann auch noch unter Beschuss geriet.

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+++Alle Entwicklungen zum Krieg in der Ukraine im Liveblog+++

Jetzt, ein halbes Jahr später, folgen die nächsten frappierenden Szenen. Russische Einheiten fliehen vor Gegenangriffen der Ukrainer in mehreren Kleinstädten gleichzeitig. Panzer werden zurückgelassen, manche Soldaten werfen in Panik ihre Uniformen weg. Eine Armee, die sich als die zweitstärkste der Welt sah, entpuppt sich als die zweitstärkste innerhalb der Ukraine.

Ukrainische Streitkräfte erobern wichtige Stützpunkte im Nordosten zurück

Das Verteidigungsministerium in Moskau erklärte am Samstag den Rückzug seiner Kräfte aus der Stadt Isjum in der Region Charkiw.

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Die Kultur der Lüge nervt die Truppe

Man habe den eigenen Truppen lediglich eine „Umgruppierung“ befohlen, erklärt Moskau eiskalt – und hält fest an der seit Februar sorgsam eingeübten orwellianischen Fiktion von Normalität.

Putin selbst betätigte sich in diesem Sinne einmal mehr als Staatsschauspieler. Lächelnd eröffnete er, während seine Soldaten in Not gerieten wie nie, ein Riesenrad in Moskau: „140 Meter hoch, so etwas gibt es in Europa nicht!“ Kurz zuvor hatte er bei einem fernöstlichen Wirtschaftsforum verkündet, Russland habe seit Kriegsbeginn „nichts verloren“.

Orwellianische Fiktion von Normalität: Putin am 10. September 2022 bei einem Auftritt zur 875-Jahr-Feier von Moskau.

Nichts verloren? Russlands Soldaten selbst sehen das inzwischen anders. Rund 50.000 von ihnen sollen inzwischen in der Ukraine ihr Leben gelassen haben, das wären mehr als dreimal so viele Tote wie in zehn Jahren Afghanistankrieg.

Erstmals trauen sich seit dem Wochenende viele russische Soldaten, in Chatnachrichten auf Putin als den Verantwortlichen zu deuten. Die Kultur der Lüge, die der einstige KGB-Mann Putin in jeder Lebenslage zelebriert, fällt dem Kremlherrn jetzt selbst auf den Fuß: Sein irreales Gerede nervt die eigenen Truppen inzwischen mehr denn je.

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Plötzlich kann viel ins Rutschen kommen

Reißt irgendwann der Faden zwischen den bewaffneten Einheiten und dem Kreml? Aus dem militärischen Wendepunkt in der Ukraine jedenfalls kann auch ein politischer Wendepunkt in Moskau werden.

An beiden Stellen, beim Militär wie in der Politik, ist viel Psychologie im Spiel, Gruppendynamik und Schwarmintelligenz. Eine Empfindung, die sich anfangs als ein nur leises Umdenken ins Bewusstsein einnistet, als Beginn einer langsamen Absetzbewegung, kann sich schlagartig multiplizieren – und plötzlich unerwartet viel auf einmal ins Rutschen bringen. Ukrainische Offiziere zeigten sich am Wochenende teilweise selbst überrascht darüber, wie schnell und mit welcher Wucht sich ein einmal entstandenes Panikgefühl in der russischen Truppe auszubreiten vermochte.

Zugleich wuchs der Mut russischer kommunaler Abgeordneter, öffentlich Kritik an Putin zu üben. Nicht nur in St. Petersburg, auch in Moskau selbst sind mittlerweile Rufe zu hören, Putin müsse zurücktreten.

Der Ausgang des jetzt anhebenden Kräftemessens, auf dem Schlachtfeld in der Ukraine wie innerhalb Moskaus, bleibt ungewiss. Eins aber steht fest: Zur russischen Tradition gehört es, Versager wie Putin nicht an der Spitze des Staates zu dulden. Moskaus militärisches Desaster in Afghanistan etwa führte bekanntlich zu nichts Geringerem als dem Zerfall der Sowjetunion – und zum Aufstieg von Michail Gorbatschow.

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