Der Wille zum Widerstand: Immer mehr Ukrainer greifen zu den Waffen
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Mitglieder der ukrainischen Territorialen Verteidigungskräfte, freiwillige Militäreinheiten der Streitkräfte, trainieren in einem Stadtpark in Kiew.
© Quelle: Efrem Lukatsky/AP/dpa
Der Chreschtschatyk-Boulevard in Kiew ist die zentrale Flaniermeile der ukrainischen Hauptstadt. Er führt zu Hotels, Banken, Museen und edlen Läden – aber auch in Luftschutzbunker.
Auf Rolltreppen gelangt man hier zu Metrostationen in Hunderten Meter Tiefe. Das unterirdische Labyrinth wurde Ende der 50er-Jahre tief unter die Stadt gebohrt. Es sollte Schutz vor einem Atomschlag bieten. Die Tunnel sollen jetzt laut Stadtverwaltung erneut eine Rolle beim Luftschutz spielen.
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Helfen ausgerechnet Strukturen aus Sowjet-Zeiten den Ukrainern im Jahr 2022 bei der Verteidigung ihrer Unabhängigkeit? Es wäre eine Ironie der Geschichte.
Auf den Aufmarsch 100.000 russischer Soldaten an den Grenzen reagiert die ukrainische Führung mit einer zweigleisigen Strategie. Einerseits warnt sie vor Hysterie. Es sei „noch nicht die Zeit, Buchweizen und Streichhölzer zu besorgen“, sagt Staatsoberhaupt Wolodymyr Selenskyj. Andererseits werden derzeit massenhaft Freiwillige an den Waffen ausgebildet. Durch verschneite Parks der Hauptstadt gellen dieser Tage militärische Kommandos, Freiwillige proben dort den Umgang mit Waffen und Gerät.
Viele Menschen in Kiew wissen nicht recht, welchen Reim sie sich auf all dies machen sollen.
Wir machen uns Sorgen, weil wir im Menschenrechtssektor arbeiten. Aber sie würden sich wohl erst um wichtigere Leute als uns kümmern.
Anna Lenchowska,
Bewohnerin aus Kiew über eine russische Invasion
Anna Lenchowska und ihr Mann Valera haben zum Essen in ihr Apartment am rechten Dnepr-Ufer geladen. Es wird gelacht, getrunken und lange spekuliert, was das Coronavirus wohl für die Urlaubspläne in diesem Jahr bedeutet. Dann versiegt das Gespräch. Das Ehepaar erzählt von seinem Notrucksack für die Flucht. Lange hätten sie sogar überlegt, ob sie Freunden im Ausland ihre Papiere schicken sollten. Jemand sollte nach ihnen suchen können, falls die Russen sie nach einem Einmarsch verhaften sollten.
„Wir machen uns Sorgen, weil wir im Menschenrechtssektor arbeiten. Aber sie würden sich wohl erst um wichtigere Leute als uns kümmern“, sagt Lenchowska. Im Moment stehe der Kauf einer Powerbank auf der To-do-Liste für den Ernstfall, um bei Stromausfall die Smartphones aufladen zu können. „Am besten wäre wohl eine mit Solarmodul“, sagt Valera und gießt etwas Wein nach.
Viele Ukrainer wollen kämpfen, nicht fliehen
Fliehen? Bekannte im Ausland kontaktieren? Dmytro Kostiukewitsch hat andere Pläne. Der 41-jährige IT-Entwickler öffnet ein Fotoalbum auf seinem Smartphone. Es zeigt Bilder von Freiwilligen beim militärischen Training: schießen, Erste Hilfe, Umgang mit Minen.
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Kiew: Soldaten der ukrainischen Territorialen Verteidigungskräfte und freiwillige Militäreinheiten der Streitkräfte nehmen an einer Militärübung in einem Stadtpark teil.
© Quelle: Efrem Lukatsky/AP/dpa
Der Entwickler ist Ausbilder der „Ukrainischen Legion“. So nennt sich ein Freiwilligenverband, der derzeit jedes Wochenende Zivilisten in verschiedenen Stadtteilen von Kiew für eine mögliche Konfrontation mit russischen Truppen ausbildet.
Reguläre Truppen plus Reservisten plus Freiwillige: Wenn man alle Posten zusammenrechnet, kommt die Ukraine auf eine verblüffend hohe Zahl von potenziellen Kämpfern. Nach offiziellen Angaben besitzen 1,3 Millionen Ukrainer einen Waffenschein.
Kostiukewitsch will nicht, dass man Truppen wie seine als letztes Aufgebot belächelt. Er spricht von „urbaner Kriegsführung“ und verweist auf den Irak. Dort habe sich sogar die Supermacht USA geschlagen gegeben und erschöpft zurückgezogen, weil sich auf Dauer die Besetzung und militärische Kontrolle von Großstädten als unmögliche Mission erwiesen hat.
Wichtig, sagt Kostiukewitsch, sei der Wille zum Widerstand. Nach jüngsten Umfragen sei die Hälfte der Ukrainer bereit, sich einer Invasion entgegenzustellen, ein Drittel mit der Waffe in der Hand. „Wenn nur ein Viertel es ernst meint, ist das eine gute Nachricht.“
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US-Präsident Joe Biden warnt mit einem drastischen Vergleich vor einer russischen Invasion in der Ukraine.
© Quelle: Reuters
Droht Putin in der Ukraine ein Irak-Szenario?
Das Irak-Szenario beschäftigt nicht nur den Kämpfer Kostiukewitsch in Kiew. Es ist auch Bestandteil der neuesten militärischen Planspiele in den Verteidigungsministerien und Denkfabriken der Nato-Länder.
Russland, ahnen westliche Militärs, würde im Kriegsfall schon früh den Luftraum über der Ukraine kontrollieren. Gleiches gilt für die Zugänge zum Meer. Weder die ukrainische Luftwaffe noch die ukrainische Marine sind für Moskau ein ernsthafter Gegner.
Komplizierter aber wird es für die Russen an Land. Die Ukraine hat seit der russischen Annexion der Krim im Jahr 2014 sowohl die Qualität als auch die Quantität ihrer Bodentruppen massiv gesteigert.
Würden die an den Grenzen zusammengezogenen rund 100.000 russischen Soldaten in die Ukraine einmarschieren, würden sie auf mehr als 200.000 ukrainische Soldaten treffen – die so gut ausgebildet und so motiviert sind wie nie.
Technisch haben die Ukrainer mittlerweile einiges zu bieten, was auch den Russen Sorgen macht. Zwei Beispiele:
- Seit 2018 trainiert die Ukraine ihre Truppen mit dem aus den USA gelieferten Panzerabwehrsystem Javelin. Der Schütze muss nur beim Abfeuern den Panzer anvisieren, danach findet die „Fire and forget“-Technik selbst ihr Ziel und durchschlägt jede derzeit weltweit bekannte Panzerung.
- Nervosität auf russischer Seite schafft auch die Drohne Bayraktar TB2. Das Hightechgerät aus türkischer Fertigung spielte im Jahr 2020 im Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan um Berg-Karabach erstmals eine Schlüsselrolle in einem zwischenstaatlichen Konflikt – und stärkte das von der Türkei unterstützte Aserbaidschan. Schon im vorigen Herbst zeigte die ukrainische Armee per Video, wie eine Bayraktar-Drohne im Donbass eine russische Haubitze zerstörte – die russische Führung war außer sich vor Zorn.
Inzwischen ist Moskaus Groll noch gewachsen, auch in Richtung Ankara, denn die Ukraine fertigt inzwischen ihre Drohnen selbst, in türkischer Lizenz.
„Aus jedem Fenster schießen“
Viele Ukrainer sagen, man werde auf die Russen gegebenenfalls noch nach Monaten „aus jedem Fenster schießen“. Auch nach Einschätzung amerikanischer Experten könnte Putin nach einem Einmarsch in den Morast eines langen, unentschiedenen Kampfes geraten.
In diesem zweiten Teil der Geschichte, in späteren Aufständen der Ukrainer nach einem schnellen militärischen Sieg der Russen, liege „die wahre Herausforderung für Putin“, glaubt der Militärexperte Frederick Kagan von der Denkfabrik American Enterprise Institute.
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Russland hat über Hunderttausend Soldaten an der Grenze zur Ukraine zusammengezogen.
© Quelle: Reuters
In einer Studie für das Washingtoner Institut für Kriegsforschung beschrieb Kagan „Putins wahrscheinliche Vorgehensweise in der Ukraine“. Kagan hat unter Militärexperten weltweit einen Ruf wie Donnerhall, seit er den von Barack Obama eingesetzten General David Petraeus im Irak beraten hat.
Russland, meint Kagan, könne die Ukraine zwar anfangs rasch besiegen. Dazu müsse Moskau rund 175.000 Soldaten einmarschieren lassen. Diese Zahl werde wohl erst Ende Januar oder Anfang Februar erreicht. Sie entspricht fast genau der Streitmacht, die 2003 im Irak antrat.
Braucht Moskau 325.000 Mann?
Der Bedarf an russischen Soldaten für den Ukraine-Einsatz könnte danach aber noch weiter wachsen. Wenn es zu Aufständen komme, etwa in Kiew und in weiteren größeren Städten, brauche man sehr genaue Kontrollen von Straßen und Häusern, verbunden mit einem für die Militärs ungewohnten Eindringen in den Alltag der Bürger. So hat es einst auch Petraeus versucht, mit einigem anfänglichen Erfolg, aber auch mit hohem Aufwand. Am Ende stand eine gewachsene Kriegsmüdigkeit der Amerikaner.
Kagan jedenfalls hat mit Blick auf die Ukraine schon mal den Taschenrechner gezückt. „Eine entschlossene Operation der russischen Besatzungstruppen würde einen Aufstandsbekämpfer (counter-insurgent) pro 20 Einwohner erfordern“, kalkuliert Kagan. „Das würde auf einen Bedarf in der Größenordnung von 325.000 Mann hindeuten.“
Putin hätte dann mehr als ein Drittel seiner derzeit aktiven Soldaten dauerhaft in der Ukraine gebunden – was die globale Supermachtstellung Russlands nicht etwa stützen, sondern eher infrage stellen würde. Hinzu kommt das tägliche Risiko eines Entgleitens der Aufstandsbekämpfung in Richtung Kriegsverbrechen oder Menschenrechtsverletzungen.
Westliche Militärexperten halten angesichts dieser für Russland problematischen Perspektiven eine trickreiche weitere Variante in Putins Vorgehen für möglich: einen zwar massiven Einmarsch – mit großer Zerstörungswirkung für ukrainische militärische Anlagen –, der aber schnell wieder beendet wird: durch einen kompletten Rückzug der Russen, insbesondere aus städtischen, dicht besiedelten Zonen.
Eine Schnell-rein-schnell-raus-Taktik könnte Putin seinem eigenen Volk als Erfolg verkaufen: Nun habe er dem Feind einen dauerhaft wirkenden Schlag versetzt.
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Alternativen zu „Putins Irak“
Zugleich aber könnte die russische Armee auf diese Art verhindern, dass die Ukraine zu Putins Irak wird. Ein gefährliches Feststecken in großstädtischen Strukturen droht den Russen vor allem in der Drei-Millionen-Metropole Kiew. Zwei andere mögliche Varianten dagegen ließen sich mit weit geringerem Risiko durchziehen.
Landverbindung Rostow–Krim: Die im russischen Rostow zusammengezogenen Panzerverbände könnten in die ukrainische Hafenstadt Mariupol vorstoßen und eine Landverbindung zur bereits 2014 annektierten Halbinsel Krim herstellen. Bei dieser Gelegenheit könnte Russland das Asowsche Meer abriegeln und das komplette 39.000 Quadratkilometer große Seegebiet für komplett russisch erklären – der Jubel seiner Nationalisten wäre Putin gewiss.
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Ukraine, Kramatorsk: Ein Mann fährt auf seinem Motorrad an einem verbrannten ukrainischen Militärfahrzeug im Dorf Oktyabrskoe in der Nähe der ostukrainischen Stadt Kramatorsk vorbei. (Archivbild)
© Quelle: Roman Pilipey/EPA/dpa
Griff nach Donezk und Luhansk: Als weitere Variante gilt das endgültige Herauslösen der beiden ohnehin schon von prorussischen Rebellen beherrschten ukrainischen Provinzen. In Donezk und Luhansk könnten russische Truppen nach jahrelangem Versteckspiel offiziell ihre Fähnchen hissen und, wie 2014 auf der Krim, eine Westerweiterung Russlands verkünden.
In beiden Fällen winkt Putin ein innenpolitischer Geländegewinn, der sich möglicherweise sogar ohne viel Blutvergießen erreichen ließe.
Dass Joe Biden jüngst von der Möglichkeit „kleinerer Einmärsche“ (minor incursions) sprach, hatte einen guten Grund. Insider sagen, der amerikanische Präsident habe sich zwar verplappert, weil er verwirrende Begriffe öffentlich ins Spiel brachte. Tatsächlich aber erwarteten auch Experten in den Lagezentren des Westens neuerdings eher begrenzte russische Aktionen, als „Alternativen zu Putins Irak“.