Keine Hamsterkäufe, offene Bars, aber wachsende Sorgen: Ein Blick in die ukrainische Grenzstadt Charkiw

Die Eisfläche auf dem Freiheitsplatz in Charkiw lädt auch am Abend noch zum Schlittschuhlaufen ein.

Die Eisfläche auf dem Freiheitsplatz in Charkiw lädt auch am Abend noch zum Schlittschuhlaufen ein.

Berlin. Während in Deutschland zumindest medial der Ukraine-Konflikt fast täglich eskaliert, läuft das öffentliche Leben in weiten Teilen des Landes nach wie vor relativ normal weiter. „Es steht kein Militär auf der Straße, es gibt keine Hamsterkäufe und keine Warteschlangen vor den Banken“, berichtet Brigitta Triebel aus der nordostukrainischen Metropole Charkiw im Gespräch mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND).

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Die Politikwissenschaftlerin leitet seit 2020 das Auslandsbüro der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) in Charkiw und feiert am Donnerstag gerade ihren 38. Geburtstag. Die ukrainischen Kollegen haben Kaffee und Kuchen vorbereitet und klopfen während des Interviews via Zoom schon ungeduldig an der Tür. „Die Restaurants, Cafés und Bars in der Stadt sind geöffnet und auch die Kultureinrichtungen“, erzählt Triebel.

Brigitta Triebel (38) leitet seit 2020 das Büro der Konrad-Adenauer-Stiftung in der nordostukrainischen Metropole Charkiv.

Brigitta Triebel (38) leitet seit 2020 das Büro der Konrad-Adenauer-Stiftung in der nordostukrainischen Metropole Charkiv.

Allerdings ist die militärische Bedrohung in den Alltagsgesprächen schon das Thema Nummer 1. Vor allem geht es dabei um die Frage: Was will Russland eigentlich, was bezweckt Präsident Wladimir Putin mit dem Aufmarsch von mehr als 100.000 Soldaten und schwerem Kriegsgerät an der Grenze zur Ukraine?

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„Die Menschen sprechen natürlich über eine drohende Invasion, und man trifft auch Vorbereitungen, etwa für einen längeren Stromausfall“, berichtet Triebel. Und die Charkiwer verfolgen sehr genau, ob und wie Deutschland die Ukraine unterstützt. Die von Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD) verbreitete Nachricht, dass Berlin 5000 Schutzhelme entsendet, bezeichnete Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko als „absoluten Witz“ und fragte via „Bild“, ob Deutschland als Nächstes wohl Kopfkissen schicken würde.

„Die Ukrainer erwarten, dass die Bundesregierung alle Wege nutzt, gerade auch als Wirtschaftsmacht, um auf Russland einzuwirken, dass die Situation entschärft wird“, sagt KAS-Büroleiterin Triebel, die in Charkiw mit sechs ukrainischen Kollegen und Kolleginnen weiter die Stellung hält, während Berlin bereits Mitarbeitern deutscher Organisationen wie dem Goethe-Institut oder dem Deutschen Akademischen Austauschdienst eine Ausreise aus der Ukraine angeboten hat. „Natürlich ist auch die Konrad-Adenauer-Stiftung sehr besorgt über die Situation. Wir werden zum gegebenen Zeitpunkt entscheiden“, sagt Triebel dazu.

Charkiw ist mit 1,5 Millionen Einwohnern nach Kiew die zweitgrößte Stadt in der Ukraine und mit 42 Universitäten und Hochschulen auch ein Wissenschafts- und Bildungszentrum. Die Kulturstadt mit sechs Theatern und sechs Museen liegt zwar gut 300 Kilometer von der seit 2014 umkämpften Donbass-Region mit den selbsternannten russischen Separatistenrepubliken Donezk und Luhansk entfernt, aber nur 40 Kilometer von der im Norden befindlichen Grenze zu Russland.

„Angesichts der schrecklichen Erfahrungen von 2014 muss man damit rechnen, dass sich viele Menschen auf die Flucht begeben werden, wenn es hier in der Region ernst wird“, wirft Triebel einen Blick voraus. Weil eine Tankfüllung nicht ausreichen könnte, um mit dem Auto sicheres Terrain im Hinterland der Ukraine zu erreichen, steigt jetzt in der Region Charkiw die Nachfrage nach Benzinkanistern. Auch Taschenlampen werden viel gekauft, aber auch hier erreicht man in der Ukraine noch nicht deutsches Kaufkraftniveau, als in Hochzeiten der Corona-Pandemie das Toilettenpapier in den Supermärkten ausging.

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Nach Triebels Einschätzung rechnet man in der Ukraine derzeit nicht unbedingt mit einer umfassenden Invasion durch Russland von drei Seiten, sondern eher mit begrenzten Szenarien, verbunden mit verschiedenen Destabilisierungsversuchen.

Denkbar sei etwa eine militärische Operation im Donbass, gepaart mit hybrider Kriegsführung wie Cyberattacken oder Angriffe auf kritische Infrastruktur. Gerade in den letzten Wochen habe es immer wieder Bombendrohungen gegen Schulen, Flughäfen und andere staatliche Einrichtungen gegeben. „Es geht Russland offenbar darum, die ukrainische Gesellschaft und die Regierung unter Druck zu setzen“, erläutert Triebel.

Die Politikwissenschaftlerin sieht die Ukraine heute wesentlich besser auf einen Konflikt vorbereitet als 2014, als das Land mit der Krim-Annexion und dem Krieg im Donbass quasi überrannt wurde. „Das wird so nicht noch einmal passieren“, sagt Triebel, „weil die ukrainischen Streitkräfte heute ganz anders aufgestellt sind“. Allerdings berge das auch die Gefahr, dass sehr schnell aus einer begrenzten Operation ein großer Konflikt wird. Triebel: „Hoffen wir das Beste!“

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