Angst, Folter und Flucht: Ukraine-Geflüchtete berichten über ihre Schicksale
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Eine ukrainische Frau trauert auf einer Demonstration in Kiew. (Archivbild)
© Quelle: IMAGO/ZUMA Wire
Warschau. Es begann einige Monate nach der Besetzung der Region Cherson im Süden der Ukraine. Russische Soldaten kamen immer wieder ins Haus der Frau, die ihre schreckliche Geschichte von Angst, Folter und Flucht nun im Exil in Polen erzählt. Ihren Namen will sie nicht nennen, denn nicht alle ihre Angehörigen haben es in die Sicherheit im Westen geschafft.
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Bei ihren „Besuchen“ zertrümmerten die Soldaten den Kühlschrank oder verlangten die Herausgabe des Autos. Dann, eines Tages, schnappten sie die Frau und ihre Tochter im Teenager-Alter, zogen ihnen Kissenbezüge über den Kopf und nahmen sie mit.
Fünf lange Tage der Folter durch russische Soldaten
Der Vorwurf: Die Soldaten beschuldigten die Frau, den Standort russischer Truppen verraten zu haben. Tagelang war sie eingesperrt. Die Russen schlugen mit einem Hammer auf ihre Beine ein, versetzten ihr Elektroschocks und brachen zwei ihrer Zehen mit den Absätzen ihrer Militärstiefel. Mehr als einmal hielten sie eine Schusswaffe an den Kopf der Frau, den sie in einen Sack gesteckt hatten. Sie zählten eins, zwei, zweieinhalb – und schossen in den Boden.
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Ansicht von Mariupol im April 2022: Nach erbitterten Kämpfen liegt die südukrainische Stadt in Schutt und Asche.
© Quelle: IMAGO/ITAR-TASS
„In dem Moment kam es mir allerdings so vor, als wäre es besser gewesen, wenn es in meinen Kopf gegangen wäre“, sagt die Frau in einem in Partnerschaft mit UNICEF betriebenen Beratungszentrum in Warschau. Fünf Tage Folter waren es. Sie zählte sie anhand des wenigen Tageslichts, das durch das winzige Fenster drang. „Das einzige, was mich durchhalten ließ, war das Wissen, dass mein Kind irgendwo in der Nähe war.“
Die Familie wird in Warschau wiedervereint
Als sie schließlich freikamen, packten sie ihre Taschen und flüchteten. Im Dezember konnte die Frau in Warschau auch einen Sohn wieder in die Arme schließen. Der Ehemann – ein Russe – hat es nicht zu ihnen geschafft. Eigentlich möchte die Frau nicht über sich sprechen. Aber sie hat ein Ziel: dass die Welt von den Verbrechen der russischen Besatzungstruppen erfährt. „Sogar jetzt habe ich Angst“, sagt sie. „Verstehen Sie?“
In Warschau bemüht sie sich um Trauma-Behandlung, wie viele andere Flüchtlinge. Hilfe bieten vor allem ukrainische Psychologinnen und Psychologen – die meisten sind selbst vor dem Krieg geflohen und haben ähnliche Erfahrungen von Trauer und Verlust gemacht. Auch wenn die Geflüchteten hier in Sicherheit sind, innere Ruhe findet fast keiner.
Ein Junge aus Mariupol wurde als menschliches Schutzschild missbraucht – und ergraute daran
Die Vereinten Nationen gehen von rund acht Millionen Flüchtlingen aus der Ukraine aus, die im ersten Kriegsjahr innerhalb Europas Schutz gesucht haben. Die Menschen leiden unter Traumata und Verlusten, sind entwurzelt, getrennt von Angehörigen, voller Angst. Nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks sind etwa 90 Prozent der Menschen aus der Ukraine, die im Ausland Zuflucht gesucht haben, Frauen, Kinder und Alte.
Im Warschauer Zentrum berichten die Psychologen und Psychologinnen von verzweifelten Kindern und von Jugendlichen, die auf einmal alles, was sie kannten, verloren haben. Einer ihrer Patienten, ein Junge aus Mariupol, wurde als menschliches Schutzschild missbraucht. Sein Haar hat schon angefangen, grau zu werden.
„Seit einem Jahr fragt sie mich oft nach dem Tod“
Die Psychologen sehen auch, wie Mütter versuchen, inmitten ihres Leids für ihre Kinder ein tapferes Gesicht aufzusetzen und sich durchzubeißen. Einige wenige können im Exil in ihren Jobs arbeiten, andere versuchen, ein neues Leben aufzubauen. Auch Frauen mit hoher Bildung suchen Putzstellen oder Hilfsarbeiten in Restaurantküchen, während sie die Sorge um ihre Kinder und in der Ukraine zurückgebliebene Angehörige drückt.
Maryna Ptaschnyk hat mit der kleinen Tochter Polina in Warschau Unterschlupf gefunden. Ihr Mann ist im Krieg in der Nähe von Soledar im Osten der Ukraine. Die dreijährige Polina hat den Vater seit Kriegsbeginn nur drei Mal gesehen. Im Kindergarten in ihrer neuen polnischen Heimat hat sich die Kleine gut eingelebt, aber der Stress lässt auch sie nicht los. „Seit einem Jahr fragt sie mich oft nach dem Tod“, sagt die Mutter, „danach, wann wir sterben werden.“
RND/AP