Konto mit 17.000 Followern gelöscht

Abschied ohne Reue: Warum bei Twitter für mich Schluss ist

Ein Twitter-Logo.

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Ich war selbst nicht sicher, ob ich den Abschied schaffen würde. Ohne eine digitale Plattform zu sein, auf der ich mich bald neun Jahre lang sehr intensiv mit zuletzt mehr als 17.000 Followern und Followerinnen ausgetobt hatte, das würde jedenfalls nicht einfach werden, so viel war klar. Manche sagen außerdem, ich solle zurückkehren. Das juckt die Eitelkeit.

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Nun sind fünf Monate verstrichen. Und ich kann bei aller Rückfallgefahr sagen: Es ist im Wesentlichen geschafft. Am Ende hatte Twitter mein Leben mehr verdunkelt als erhellt. Dabei war die Übernahme des Dienstes durch den ebenso radikalen wie verrückten Elon Musk, dem ich durch meine Anwesenheit keine Legitimität verschaffen wollte, nur der äußere Anlass für den Ausstieg.

Meine Tweets sollten einen Wall errichten

Gewiss genoss ich die Möglichkeit, jederzeit an jedem Ort ungefiltert dem Ausdruck zu verleihen, was ich dachte und fühlte. Eine Idee pointiert und mit einer gewissen Reichweite artikulieren zu können, das hat ebenso seinen Reiz wie die Chance, damit unmittelbar Reaktionen hervorzurufen. Wie im journalistischen Leben treibt mich überdies nicht selten Schreiblust. Manchmal steigert sie sich zu Schreibdruck – zunehmend hervorgerufen durch den Verfall der demokratischen Welt, wie sie mir über Jahrzehnte selbstverständlich war. Meine Tweets sollten dagegen einen Wall errichten. Meistens motiviert durch traurigen Zorn. Und Fassungslosigkeit.

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Doch das ist natürlich Unsinn. Tatsächlich errichtete ich keinen Wall. Vielmehr leistete jede pointierte Meinungsäußerung durch den zwangsläufigen Widerspruch vor allem der Polarisierung Vorschub. Oder der Selbstdarstellung. Oder beidem. Und Polarisierung bedroht die Demokratie nicht minder.

Etwas anderes kommt neben der Suchtgefahr und dem durch jeden weiteren Follower und jede weitere Followerin genährten Irrglauben des Twitterers, er sei mit seinen Äußerungen wesentlich, hinzu: Twitter spült den Nutzern und Nutzerinnen die Übel der Gegenwart ungehemmt und ungefiltert ins Haus. Unterdessen zählen zum Übel nicht allein die ökonomischen, sozialen, politischen und ökologischen Katastrophen dieser Zeit. Die Art, wie sie bei Twitter allzu oft reflektiert und bearbeitet werden – mit Häme, Niedertracht und Zynismus –, ist gleichsam das versauerte Sahnehäubchen.

Bei mir mündete Twitter mehr und mehr in Ekel

Jeder User und jede Userin wird Teil des Betriebs, ob durch Passivität oder Gegenwehr. Letztere heizt die Spirale des Negativen an. Bei mir mündete Twitter deshalb mehr und mehr in Ekel: vor den anderen, vor mir selbst, vor der Welt – auch, weil ich wider besseres Wissen nicht einfach aufhörte damit. Schließlich ist die Welt ohnehin nicht zu retten. Denn dummerweise haben wir mehr existenzielle Probleme als Vernunft, sie zu lösen. Und wenn die Welt doch gerettet werden sollte, dann sicher nicht in digitalen Netzwerken. Lieber kehre ich daher zu einem selbstverständlichen Gedanken zurück: Ich muss nicht zu allem etwas sagen. Und ich muss auch nicht wissen, wenn es andere tun. So bleibe ich bei mir.

Seit seiner Twitter-Übernahme hat das Ansehen von Elon Musk stark gelitten.

Herr der Doppelmoral: Elon Musk macht Twitter unglaubwürdig

Elon Musks erste sechs Monate als Twitter-Chef waren das reinste Chaos. Mit seinen Eskapaden und seiner Doppelmoral schadet er sich selbst – aber auch Twitter, kommentiert Ben Kendal. Der Techmilliardär muss aufhören, mit der so wichtigen Plattform zu spielen.

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Entzug bei Mastodon

Sicher, in den ersten Wochen nach dem Abschied schien es, als hätte ich mit meinem digitalen Auditorium „Freunde“ und Bedeutung verloren. Doch schon der Satz „Wir kennen uns von Twitter“ ist so falsch wie irgendetwas. Wir kennen uns nicht.

Derzeit bin ich zwar noch im Methadonprogramm namens Mastodon. Da habe ich die Dosis allerdings deutlich gesenkt, oder ich schreibe Sätze wie „Nieselregen, es reicht jetzt!“ und kriege vier Likes dafür. Bei Mastodon schaut keiner hin. Gut so. Das hilft.

Am Ende ist es beim Twittern, wie es einst beim Rauchen war. Ich bin froh, dass es vorbei ist, und frage mich, warum ich je damit angefangen habe.

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