Wie Erdogan in der Corona-Krise seine Macht zementiert
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Recep Tayyip Erdogan, Präsident der Türkei
© Quelle: Uncredited/Turkish Presidency/dp
Ankara. Auf die Türken kommt eine weitere Wochenend-Quarantäne zu. Diesmal wird sie gleich vier Tage dauern, vom kommenden Samstag bis zum Dienstag nächster Woche, der in der Türkei ein Feiertag ist. Staatschef Recep Tayyip Erdogan höchstpersönlich verkündete die Ausgangssperre in einer TV-Ansprache. Ein Aufbegehren der Bevölkerung gegen die Beschränkungen, wie es sich in anderen Ländern regt, braucht Erdogan nicht zu fürchten. Er nutzt die Epidemie, um seine Macht zu festigen.
Trotz anfänglicher Versäumnisse hat die Türkei die Epidemie inzwischen gut im Griff. Mit 43 Covid-19-Toten pro Million Einwohner ist die Sterblichkeit nur halb so hoch wie in Deutschland. Jetzt zahlt sich aus, dass die Erdogan-Partei AKP in den vergangen 18 Jahren massiv ins Gesundheitssystem investierte. Das Land hat 46 Intensivbetten pro 100 000 Einwohner. Das ist fast das Vierfache des EU-Durchschnitts.
Mobilisierung gegen den imaginären ausländischen Feind
Da die Kurve der Neuinfektionen und der Todesfälle jetzt abzuflachen beginnt, lockert die Regierung die Beschränkungen schrittweise. Für Erdogan ist es eine Gratwanderung: Er muss die Epidemie bremsen, will aber zugleich die ohnehin angeschlagene Wirtschaft nicht abwürgen. Eine länger anhaltende Rezession mit einhergehender Massenarbeitslosigkeit könnten seine Chancen auf eine Wiederwahl im Jahr 2023 schmälern. Um seine Landsleute über die Durststrecke hinwegzutrösten, greift Erdogan jetzt zu einer bewährten Argumentation: Der Wertverfall der Lira, die jetzt sogar unter die Tiefststände der Währungskrise vom Sommer 2018 abstürzte, sei das Werk von „Verschwörern“, lässt Erdogan verbreiten. Der AKP-Vizepräsident Numan Kurtulmus sieht gar einen „globalen Angriff“ auf die Türkei. Mit der Mobilisierung gegen einen imaginären ausländischen Feind versucht die Regierung, die Reihen zu schließen.
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Immer schon hat es Erdogan verstanden, Krisen für sich zu nutzen. Aus den landesweiten Massenprotesten vom Sommer 2013 ging er gestärkt hervor. Die wenige Monate später aufgekommenen massiven Korruptionsvorwürfe konnten ihm nichts anhaben, er nutzte sie für umfangreiche „Säuberungen“ in der Justiz. Der Putschversuch vom 15. Juli 2016 half Erdogan, seine Macht weiter zu zementieren. Er ließ Zehntausende politische Gegner verhaften und beschleunigte den Übergang zum Präsidialsystem, das ihm fast unumschränkte Befugnisse gibt. Jetzt erhöht Erdogan den Druck auf die Opposition. Sie stellt die Bürgermeister in den größten Städten des Landes. Systematisch durchkreuz die Regierung vor allem das Corona-Krisenmanagement des Istanbuler Oberbürgermeisters Ekrem Imamoglu. Der populäre Stadtvater soll keine Chance bekommen, sich für die Wahl von 2023 als Erdogans Gegenkandidat zu profilieren.
Häftlinge entlassen - Erdogan-Kritiker aber bleiben hinter Gittern
Auch seinen wenigen verbliebenen Kritikern in den Medien, aufmüpfigen Nutzern sozialer Netzwerke und missliebigen Wissenschaftlern von Erdogan die Daumenschrauben angezogen worden. Eine Ärztin, die in einer internen Besprechung Zweifel an den offiziellen Corona-Zahlen äußerte, wurde von der Polizei festgenommen und musste sich öffentlich entschuldigen. Nach Angaben des Innenministeriums wurden bis Ende April 402 Menschen festgenommen, weil sie in sozialen Netzen „provokante und missbräuchliche Informationen“ über die Epidemie verbreitetet haben sollen. Gegen 855 Personen werde ermittelt.
Andere dagegen kommen frei, Corona sei Dank. Rund 90.000 Häftlinge entließ die Regierung jetzt vorzeitig aus den Gefängnissen, weil man eine Epidemie in den überfüllten Haftanstalten befürchtet. Erdogan-Kritiker wie der Bürgerrechtler Osman Kavala oder der Intellektuelle Ahmet Altan müssen hinter Gittern bleiben. Für sie könnte es das Todesurteil bedeuten. Der 70-jährige Altan schrieb jetzt aus der Haft: „Wenn das Virus das Gefängnis erreicht, wird es sich hier wie ein Buschfeuer ausbreiten.“