Alle Zeichen stehen auf Stichwahl

Ergebnisse in türkischen Staatsmedien: Erdogan verpasst offenbar absolute Mehrheit

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan bei seiner Stimmabgabe am Sonntag.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan bei seiner Stimmabgabe am Sonntag.

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Bei der Präsidentenwahl in der Türkei zeichnete sich am Sonntagabend eine Führung des Amtsinhabers Recep Tayyip Erdogan ab. Seine Wiederwahl hat Erdogan aber offenbar noch nicht erreicht: Nach Auszählungsergebnissen aus 94,66 Prozent der Wahlbezirke lag er nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu mit 49,56 Prozent knapp unter der absoluten Mehrheit (50 Prozent der Stimmen), die er für einen Sieg benötigt. Erdogans Herausforderer Kemal Kilicdaroglu kam danach auf 44,71 Prozent. Wenn keiner der Kandidaten bei der Abstimmung mehr als 50 Prozent der Stimmen erreicht hat, gehen Erdogan und Kilicdaroglu in zwei Wochen in eine Stichwahl.

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Von der von der Opposition veröffentlichten Daten deuten ebenfalls auf eine Stichwahl hin. Sie sah Kilicdaroglu am Sonntagabend bei 47,7 Prozent, Erdogan bei 45,8 Prozent nach der Auszählung von rund 130.000 Wahlurnen.

Auch bei der gleichzeitig stattfinden Parlamentswahl lagen die Erdogan-Partei AKP und ihre Koalitionspartner am späten Sonntagabend knapp vorn. Auf die Volksallianz aus AKP, der neofaschistischen MHP und kleineren ultra-rechten und islamistischen Splittergruppen entfielen rund 50 Prozent und 325 der 600 Parlamentsmandate.

Oppositionspolitiker wie Ankaras Bürgermeister Mansur Yavas gaben sich dennoch siegesgewiss. Sie sahen den eigenen Kandidaten Kilicdaroglu vorn, warfen der Regierung „Manipulationen“ bei der Stimmenauszählung vor und äußerten Zweifel an den Auszählungsergebnissen, die von der Staatsagentur Anadolu und dem staatlichen Fernsehen TRT verbreitet wurden. Die islamisch-konservative AKP Erdogans lege bewusst Einspruch gegen die Ergebnisse in Hochburgen der Opposition ein. Dadurch werde die Auszählung langsamer gemacht, und das Ergebnis falle zunächst zugunsten der Regierung aus. Erdogan wies die Kritik zurück und warf der Opposition „Raub des nationalen Willens“ vor. Mit dem vorläufigen Endergebnis wird am frühen Montagmorgen gerechnet.

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Der Bürgermeister von Ankara, Mansur Yavas, sagte unter Berufung auf Wahlprotokolle, Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu liege mit rund 47,4 Prozent knapp vorne. Präsident Recep Tayyip Erdogan komme demzufolge auf rund 46,8 Prozent der Stimmen. Rund 92.000 Wahlurnen von insgesamt rund 192.000 seien ausgezählt. Er gehe davon aus, dass die Präsidentenwahl schon in der ersten Runde entschieden werde.

AKP-Sprecher Ömer Celik wiederum warf der Opposition eine „diktatorische Haltung“ während der Stimmauszählung vor, weil sie Ergebnisse frühzeitig bekannt gebe. Die Staatsagentur veröffentlicht in der Regel zunächst die Auszählungsergebnisse in Erdogan-Hochburgen. Die ersten Daten lassen daher noch keine Rückschlüsse auf das Endergebnis zu.

Letzte Umfragen sehen knappes Ergebnis

Letzte Meinungsumfragen vor der Wahl ließen ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen dem islamisch-konservativen Erdogan und Kilicdaroglu erwarten. Der 74-jährige Kilicdaroglu ist Vorsitzender der Mitte-links-Partei CHP und trat als gemeinsamer Kandidat von sechs Oppositionsparteien als Präsidentschaftskandidat an. In einigen Umfragen lag er zuletzt knapp vor Erdogan. Mit Kilicdaroglu hatten sich die wichtigsten türkischen Oppositionsparteien jetzt erstmals auf einen gemeinsamen Herausforderer für Erdogan geeinigt.

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Beobachter sehen in der Wahl die vielleicht wichtigste Richtungsentscheidung der Türkei seit Gründung der Republik vor 100 Jahren. Der 69-jährige Erdogan hat in den vergangenen Jahren das Land immer autoritärer regiert. Unter dem 2018 eingeführten Präsidialsystem konzentrierte er als Staatsoberhaupt, Regierungschef und Parteivorsitzender in Personalunion fast die gesamte Macht bei sich. Er konnte weitgehend am Parlament vorbeiregieren. Zur Präsidenten- und Parlamentswahl trat Erdogan mit der „Volksallianz“ an. Ihr gehören neben seiner islamisch-konservativen AKP die neofaschistische MHP und weitere ultrarechte sowie islamistische Splitterparteien an.

Oppositionskandidat Kilicdaroglu wollte im Fall seines Sieges das Präsidialsystem wieder abschaffen und zur parlamentarischen Demokratie zurückkehren, die Unabhängigkeit der Justiz und der Zentralbank wiederherstellen, die Einschränkungen der Meinungsfreiheit rückgängig machen und die Gewaltenteilung stärken. Kilicdaroglu wollte auch die unter Erdogan schwer beschädigten Beziehungen zum Westen reparieren und die eingefrorenen EU-Beitrittsverhandlungen der Türkei wiederbeleben.

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Erdogans Politik in der Kritik

Erdogan spürte erstmals seit seiner Wahl zum Ministerpräsidenten 2003 kräftigen Gegenwind. Die Inflation erreichte im vergangenen Herbst mehr als 83 Prozent und liegt offiziell derzeit bei 44 Prozent. Die Zahlen gelten aber als geschönt. Regierungsunabhängige Ökonomen beziffern die tatsächliche Teuerung auf 105 Prozent. Auch die schwere Erdbebenkatastrophe von Anfang Februar, bei der mindestens 51.000 Menschen starben, dürfte Erdogan Stimmen kosten. Der eng mit der Bauindustrie verbandelte Staatschef hatte in den Jahren zuvor mehrfach Schwarzbauten mit Amnestien nachträglich legalisiert. Viele dieser Gebäude stürzten jetzt ein.

Der Wahlkampf war stark polarisiert, von Gewalt und Hassparolen überschattet. Im osttürkischen Erzurum, einer Erdogan-Hochburg, wurde ein beliebter Oppositionspolitik mit Steinwürfen angegriffen. Mehrere Menschen wurden verletzt. Unbekannte Täter gaben Schüsse auf Büros der Oppositionsparteien ab. Erdogan hetzte im Wahlkampf gegen schwule, lesbische und queere Menschen, denen er nach der Wahl „eine Lehre erteilen“ werde. Der MHP-Vorsitzende Devlet Bahceli droht Oppositionspolitikern, sie erwarteten nach der Wahl „lebenslange Haftstrafen oder Kugeln in ihren Körpern“. Innenminister Süleyman Soylu verglich die Wahl mit einem „Putschversuch des Westens“. Das weckte die Befürchtung, Erdogan werde eine Niederlage nicht hinnehmen und die Macht nicht abgeben. Am Freitagabend versicherte Erdogan jedoch in einem TV-Interview, er werde „jedes Wahlergebnis als legitim anerkennen“ und „tun, was die Demokratie erfordert“.

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Mit Material der dpa

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