Deutscher Handel mit Ländern im Osten nimmt trotz Kriegs in der Ukraine zu
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/GABLLPWW75EH5PDSWOVME5GORU.jpg)
Handgefertigte Weihnachtskugeln auf dem Markt im polnischen Kraków. Polen war auch 2022 die Lokomotive im deutschen Osthandel.
© Quelle: IMAGO/NurPhoto
Berlin. Trotz des russischen Angriffskriegs in der Ukraine und der damit verbundenen wirtschaftlichen Unsicherheit hat der deutsche Osthandel 2022 weiter zugelegt. Das Handelsvolumen der mit dem Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft (OA) verbundenen 29 Länder lag in den ersten zehn Monaten bei fast 469 Milliarden Euro und damit um 14 Prozent über dem Ergebnis des Vorjahres (413 Milliarden Euro). Über die Bilanz und die Aussichten für 2023 sprach das RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND) mit OA-Geschäftsführer Michael Harms.
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/CCNBS6EMERBT5LCHIBRC3CTAN4.jpg)
Michael Harms ist seit 2016 Geschäftsführer des Ost-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft.
© Quelle: Quelle: OA
Herr Harms, wie hat Russlands Krieg in der Ukraine das Geschäft der Mitgliedsunternehmen des Ost-Ausschusses verändert, wie haben sich die Proportionen verschoben?
Mit Blick auf Russland hat es sich fundamental und dramatisch verändert: Das Konzept „Wandel durch Handel“ oder die Vorstellung, dass wirtschaftliche Verflechtung auch zu gesellschaftlicher Veränderung führt, ist sehr stark infrage gestellt und zwingt uns zu einem Überdenken der bisherigen Strategie. Russland war nie Spitzenreiter im deutschen Osthandel, sondern an dritter Stelle, und ist jetzt noch weiter nach hinten gerückt.
Was bedeutet das?
Viele deutsche Firmen haben sich komplett zurückgezogen. Wir befürworten die Sanktionen, bahnen keinerlei neue Geschäfte mehr mit Russland an, unterstützen als Verband aber auch nach wie vor die Unternehmen, die noch vor Ort sind. Das sind häufig Firmen, die im Bereich der Versorgung der Bevölkerung tätig sind, in der Medizin oder zu Klimaschutz und Nachhaltigkeit beitragen. Aber auch die schieben keine neuen Projekte mehr an, sondern viele verwalten ihr vorhandenes Geschäft oder wickeln es ab. Viele Firmen haben eine Weile gebraucht, um den richtigen rechtlichen Rahmen für die Geschäftsabwicklung zu finden.
Wie wird sich das auf Russlands Wirtschaft im kommenden Jahr auswirken?
Zunächst muss man feststellen, dass die russische Wirtschaft in diesem Jahr nicht so stark eingebrochen ist, wie das noch im Frühjahr prognostiziert wurde. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) sank im dritten und vierten Quartal lediglich um rund 4 Prozent. Da war wesentlich mehr erwartet worden. Aber die Effekte des Rückzugs der deutschen und anderer internationaler Unternehmen werden sich auch erst 2023 zeigen. Die Rezession wird in Russland deutlich stärker ausfallen, Prognosen gehen von einem Rückgang des BIP um 6 Prozent aus. Wenn man sich nur das seit Anfang Dezember geltende Ölembargo der EU anschaut, so hat das laut russischen Quellen schon jetzt zu einem Exportrückgang beim Öl von 10 Prozent geführt. Im Februar kommen dann noch Ölprodukte hinzu und möglicherweise im Laufe des Jahres weitere Sanktionen …
Wie schlägt der Einbruch im Russland-Geschäft auf die Gesamtbilanz des Osthandels durch?
Glücklicherweise gar nicht. Im Gegenteil: Durch große Steigerungen im Geschäft mit anderen Ländern Ost- und Mitteleuropas konnte der Einbruch im Russland-Handel mehr als kompensiert werden. Allein die vier Länder der Visegrád-Gruppe, also die mittelosteuropäischen Staaten Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn, machen inzwischen fast 13 Prozent des gesamten deutschen Außenhandels aus.
Der Osthandel insgesamt ist in den ersten zehn Monaten dieses Jahres sogar um 14 Prozent gewachsen gegenüber dem Vorjahr. Das hat natürlich auch etwas mit der Inflation und gestiegenen Preisen zu tun. Aber auch mengenmäßig hat sich das Geschäft vergleichsweise gut behauptet, obwohl der deutschen Export nach Russland um über 40 Prozent zurückgegangen ist. Dafür hat sich der Handel mit anderen Ländern, auch in Zentralasien, sehr gut entwickelt.
Polen lag 2021 an der Spitze der deutschen Handelspartner in Osteuropa und sogar auf Platz fünf der gesamten Außenhandelsbilanz. Setzt sich der Trend fort?
Ja, unbedingt. Im vergangenen Jahr betrug das Handelsvolumen mit Polen 148 Milliarden Euro und wird 2022 noch einmal um mindestens 12 Prozent zulegen. Hier werden vor allem in der Auto-, der Elektro- und in der Chemieindustrie gute Geschäfte gemacht. So betreibt beispielsweise der Pumpenhersteller Wilo aus Dortmund in Polen ein großes Werk, von dem aus weltweit Kunden beliefert werden und das zugleich das Digitallabor der Firma ist. Der Schraubenhersteller Würth aus Baden-Württemberg betreibt in Polen ein Werk mit 800 Beschäftigten und produziert dort alles, was auf dem Bau an Montagetechnik gebraucht wird.
Wie sieht die Handelsbilanz mit der vom Krieg schwer gezeichneten Ukraine aus?
Das ist für mich, ehrlich gesagt, ein Phänomen: Von Januar bis Oktober haben wir Waren im Wert von 2,5 Milliarden Euro aus der Ukraine importiert und Produkte für 3,9 Milliarden Euro exportiert. Somit ist unser Import aus der Ukraine im Vorjahresvergleich mit minus 0,9 Prozent fast gar nicht zurückgegangen während des Krieges. Und der deutsche Export ist nur um 11 Prozent geschrumpft. Das ist unter diesen Kriegsbedingungen fast unerklärlich. Und das ist eine sehr gute Nachricht.
Der Ost-Ausschuss hatte schon im Oktober das Dossier „Rebuild Ukraine“ vorgelegt, obwohl das Land nach wie vor im Bombenhagel versinkt.
Wir sehen in der Ukraine riesige Wachstumspotenziale auf den Feldern Digitalisierung, Agrarwirtschaft und grüne Energien. Solange Krieg herrscht, ist natürlich nicht mit einer riesigen Investitionswelle deutscher Unternehmen zu rechnen. Aber wir sollten uns vorbereiten. Und es gibt positive Signale deutscher Firmen, die ihr Engagement in der Ukraine trotz des Krieges aufrechterhalten oder sogar ausbauen, etwa in der Autozulieferindustrie oder im Baustoffhandel.
Es wäre gut, wenn sich wie beim Marshallplan nach dem Zweiten Weltkrieg internationale Geber und die Regierung in Kiew darauf konzentrieren würden, schnelle Anreize für die Privatwirtschaft zu schaffen. Wir haben im September den Service-Desk Ukraine geschaffen, der als Anlaufstelle für interessierte Unternehmen, Initiativen und Verbände dient und gut angenommen wird.
Wie sind die Aussichten für den Osthandel im kommenden Jahr?
Wir haben ja 2021 erstmals die 500-Milliarden-Euro-Marke überschritten und damit einen neuen Rekord aufgestellt. Nach den bislang vorliegenden Zahlen werden wir dieses Ergebnis in diesem Jahr erneut mit über 13 Prozent übertreffen, trotz des Krieges. Die endgültige Bilanz wird erst Anfang Februar vorliegen. Und wir sind auch für das kommende Jahr sehr optimistisch. Es wird wohl keine überproportionalen Steigerungen mehr geben wie zuletzt, aber 7 Prozent halte ich durchaus für möglich.