Bericht von Amnesty International

Warum die Zahlen über weltweite Hinrichtungen mit Vorsicht zu bewerten sind

Eine Todeszelle in einem amerikanischen Gefängnis (Symbolbild).

Eine Todeszelle in einem amerikanischen Gefängnis (Symbolbild).

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Berlin. Im vergangenen Jahr wurden weltweit so viele Menschen hingerichtet wie seit 2017 nicht mehr. Insgesamt 883 vollzogene Todesurteile meldet die Menschenrechtsorganisation Amnesty International in einem aktuellen Bericht. Im Vorjahr waren es noch 579 Hinrichtungen. Das ist ein Anstieg von insgesamt 53 Prozent im Jahr 2022.

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„Dabei handelt es sich wohlgemerkt lediglich um die Zahl der bekannt gewordenen Hinrichtungen“, betont Alexander Bojcevic, Experte für die Todesstrafe bei Amnesty International in Deutschland, im Gespräch mit dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). Die Dunkelziffer sei vermutlich um ein Vielfaches höher, denn einige Nationen – darunter China, Nordkorea und Vietnam – behandelten die Zahl der vollstreckten Todesurteile als Staatsgeheimnis. Aus diesen Ländern dringt kaum Information über die tatsächliche Zahl der hingerichteten Menschen nach außen.

Wohl allein in China Tausende Hinrichtungen

Amnesty geht allein im Falle Chinas von Tausenden Hinrichtungen aus. Seit 2009 gibt die Organisation keine genauen Zahlen zu den vollstreckten Todesurteilen in dem Land mehr heraus. Zu ungenau wären sie und könnten so vom chinesischen Staatsapparat missbraucht werden, sagt Bojcevic.

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Dass die Hinrichtungen im Bereich der Tausenden liegen könnten, hält auch der China-Experte Eberhard Sandschneider von der Freien Universität Berlin für möglich. „China stützt sich in seinem Strafrecht auf Werte, bei denen wir uns im Westen an den Kopf fassen“, erklärt Sandschneider gegenüber dem RND. „Dinge, die bei uns unter den Bereich ‚normale Kriminalität‘ fallen, können dort als kapitale Verbrechen mit einem Todesurteil bestraft werden“, so der Politologe. „Der relative Wert eines Menschenlebens ist in China deutlich geringer als im Westen“, fügt Sandschneider hinzu. Die Menschenrechtslage in dem Land sei aus westlicher Sicht „katastrophal“ und habe sich in den vergangenen rund 30 Jahren eher noch verschlechtert.

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Im Amnesty-Bericht fällt zudem ein starker Anstieg von Hinrichtungen im Iran und in Saudi-Arabien ins Auge. In der Region Naher Osten und Nordafrika wurden rund 93 Prozent der weltweiten Hinrichtungen im vergangenen Jahr vollzogen. Allein auf den Iran fallen dabei mindestens 576 vollstreckte Todesurteile, in Saudi-Arabien wurden in 196 Fällen Menschen hingerichtet. Hinzu kommen 24 Exekutionen in Ägypten.

Offizielle Gründe für Todesurteile im Iran sind „mit äußerster Vorsicht zu behandeln“

Laut der Menschenrechtsorganisation liege der Anstieg im Iran (2021 richtete das Land mindesten 314 Menschen hin) offiziellen Angaben zufolge insbesondere an vollstreckten Todesurteilen im Zusammenhang mit Morden und Drogendelikten. „Dies ist jedoch mit äußerster Vorsicht zu behandeln“, warnt Ali Fathollah-Nejad, Direktor des Centers for Middle East and Global Order (CMEG). „Im Iran handelt es sich um einen hochpolitisierten Justizapparat, die angeführten Gründe für Todesurteile können lediglich vorgeschoben sein“, sagt der deutsch-iranische Politikwissenschaftler gegenüber dem RND.

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Eine weitere Welle von Exekutionen finde aktuell vor dem Hintergrund der revolutionären Proteste statt, erklärt Fathollah-Nejad. Die Proteste haben im vergangenen Herbst am Tod der 22-jährigen iranischen Kurdin Mahsa Amini ihren Beginn genommen. Das iranische Regime geht mit aller Härte gegen die Demonstrationen vor, Hunderte Menschen wurden dabei getötet. Aber auch schon vorher sei der Iran gemessen an seiner Bevölkerungsgröße „Weltrekordhalter“ bei den Hinrichtungen gewesen, so der Politikwissenschaftler. „Das wurde jedoch während des Annäherungsprozesses rund um den Atomdeal mit dem Iran auch in Europa ignoriert.“ Aktuell droht auch dem Deutsch-Iraner Jamshid Scharmahd nach einem umstrittenen Todesurteil wegen seiner angeblichen Beteiligung an einem Terroranschlag die Hinrichtung.

Im Falle Saudi-Arabiens hingegen könne man anhand der hohen Zahl der Hinrichtungen die „andere Seite der Medaille des laufenden Modernisierungsprozesses“ erkennen, meint Fathollah-Nejad. Das Land verfolge seine großstrategische „Vision 2030″, die vor allem ökonomische Diversifizierung suche, aber auch zur Lockerung mancher gesellschaftlicher Restriktionen führte. Menschenrechtsverletzungen stünden dennoch weiter auf der Tagesordnung, sagt der Nahostexperte.

Weltweit ist in 55 Staaten noch die Vollstreckung der Todesstrafe möglich

Neben all den erschreckenden Zahlen bietet der Amnesty-Bericht jedoch auch positive Erkenntnisse. „In knapp 50 Jahren, die sich Amnesty International für die weltweite Abschaffung der Todesstrafe einsetzt, hat sich die Zahl der Staaten, in denen sie weiterhin vollstreckt wird, halbiert“, erklärt Alexander Bojcevic. Man komme nun an den „harten Kern“ von 55 Staaten, die sich gegen eine Abschaffung sträuben. Das Ziel der Organisation sei ein völkerrechtliches Verbot der Todesstrafe. Allein im vergangenen Jahr hätten mit Kasachstan, Papua-Neuguinea, Sierra Leone und der Zentralafrikanischen Republik vier Staaten die Todesstrafe aus ihren Gesetzbüchern getilgt, hinzu kommen Äquatorialguinea und Sambia, wo die Todesstrafe nun nicht mehr für gewöhnliche Verbrechen ausgesprochen werden darf.

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Das Völkerrecht stelle schon jetzt hohe Hürden für Staaten, die die Todesstrafe nutzen wollen, sagt Bojcevic. Dazu gehöre etwa das Recht auf Verteidigung oder eine Revisionsinstanz. „In vielen Staaten gibt es das jedoch nicht“, so der Experte für die Todesstrafe. Im Iran seien auch 2022 Menschen zum Tode verurteilt worden, die zum Zeitpunkt der ihnen zur Last gelegten Tat noch unter 18 Jahre alt waren. Außerdem seien Angeklagte gefoltert worden, um Geständnisse zu erpressen, aufgrund derer sie dann zum Tode verurteilt wurden.

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