„Du weißt nicht, wer noch am Leben ist“

Verbindung wiederhergestellt: Nach anderthalb Jahren klingeln in Tigray wieder Telefone

Kinder eines örtlichen Kampfsport- und Fitnesszentrums, die Plakate mit Friedenszeichen und Botschaften auf einem Straßenkarneval hochhalten, der von der „Tigray Development Association" zur Unterstützung des jüngsten Friedensabkommens zwischen der äthiopischen Bundesregierung und den Tigray-Kräften organisiert wurde.

Kinder eines örtlichen Kampfsport- und Fitnesszentrums, die Plakate mit Friedenszeichen und Botschaften auf einem Straßenkarneval hochhalten, der von der „Tigray Development Association" zur Unterstützung des jüngsten Friedensabkommens zwischen der äthiopischen Bundesregierung und den Tigray-Kräften organisiert wurde.

Nairobi. Anderthalb Jahre lang sind Telefonanrufe zu den Menschen in der äthiopischen Region Tigray nicht durchgekommen. Jetzt werden die Verbindungen nach und wiederhergestellt, nach einer fragilen Friedensvereinbarung, die Anfang November für eine der schlimmsten Kriegszonen der Welt getroffen wurde. Aber längst nicht allen Tigrayern bringt das Telefonieren Erleichterung: Viele erfahren Kummer und Leid.

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„Ich habe mich davor gefürchtet, Anrufe zu erhalten“, sagt ein Mann aus der Region, der jetzt in Norwegen lebt, der Nachrichtenagentur AP. „Du möchtest mit deiner Familie sprechen, aber du weißt nicht, welche Art von Geschichten du hören wirst, darüber, wer noch am Leben ist.“

Krieg mit mehr Toten als in der Ukraine

Der Konflikt äthiopischer und verbündeter Truppen mit Kämpfern aus Tigray hat nach Schätzungen der Vereinten Nationen und der USA seit Ende 2020 Hunderttausende Menschenleben gefordert. Dem UN-Generalsekretär zufolge sind in diesem Krieg mehr Menschen getötet worden als bislang in der Ukraine. Und erst jetzt, nachdem manche unter die Kontrolle der äthiopischen Regierung zurückgekehrte Gebiete wieder Telefonanschluss haben, beginnen viele Tigrayer, das Schicksal ihrer Lieben zu erfahren.

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Der Mann in Norwegen, der aus Sorge um die Sicherheit seiner Angehörigen daheim anonym bleiben wollte, sprach am 10. Dezember mit seinem Vater und seinen Geschwistern im Raum Adwa – zum ersten Mal seit Juni 2021. Und er war völlig überwältigt. „Ich wusste nicht, ob sie noch leben, so war es ein (positiver) Schock, ihre Stimmen zu hören“, schildert er. „Ich wusste nicht, wo anfangen. Ich musste auflegen und später wieder anrufen.“

Du möchtest mit deiner Familie sprechen, aber du weißt nicht, welche Art von Geschichten du hören wirst, darüber, wer noch am Leben ist.

Mann aus Tigray, über den ersten Anruf bei seinen Angehörigen

Aber der Kontakt nach daheim brachte auch schmerzhafte Nachrichten. Seine Familie sagte ihm, dass sieben Nachbarn in ihrem Dorf 30 Kilometer südlich von Adwa getötet worden seien, nachdem äthiopische und verbündete Kräfte aus Eritrea das Gebiet im Oktober unter ihre Kontrolle gebracht hatten – wenige Tage, bevor die Friedensvereinbarung zwischen der Regierung und der Führung Tigrays unterzeichnet worden war.

Access Now: Längster Blackout der Welt

Soziale Medien sind in den vergangenen Tagen mit Botschaften von Menschen aus Tigray überflutet worden, die sagen, dass sie vom Tod Angehöriger erfahren hätten. Der Prominenteste war der Chef der Weltgesundheitsorganisation WHO, Tedros Adhanom Ghebreyesus. „Ich habe die Nachricht erhalten, dass mein Onkel von eritreischen Truppen ermordet worden ist“, sagte er vergangene Woche Journalisten. „Ich habe mit meiner Mutter gesprochen, und sie war wirklich am Boden zerstört, denn er war der Jüngste in der Familie, und er war fast in meinem Alter – ein junger Onkel.“

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Die Telefon-, Internet- und Bankenverbindungen wurden in der Region Tigray mit ihren damals mehr als fünf Millionen Einwohnern erstmals unterbrochen, als der Konflikt begann. Sie wurden Anfang 2021 in manchen Gegenden wiederhergestellt, als die Zentralregierung versuchte, ihre Kontrolle zu behaupten. Dann war erneut Schluss damit, als Streitkräfte aus der Region im Juni 2021 den größten Teil des Gebietes zurückeroberten.

Krieg in Tigray - von der Öffentlichkeit abgeschnitten
26.11.2020, Sudan, Qadarif: Menschen aus Tigray, die vor dem Konflikt in der ��thiopischen Region Tigray geflohen sind, stehen auf einem H��gel ��ber dem Fl��chtlingslager Umm Rakouba. Nach dem Ablauf eines Ultimatums zur Kapitulation der Kr��fte in der Konfliktregion Tigray hat ��thiopiens Regierungschef Ahmed dort eine finale Milit��roffensive angeordnet. Foto: Nariman El-Mofty/AP/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

Es gibt keine unabhängige Berichterstattung über die Situation in Äthiopien. Die Berichte über den seit einem Monat anhaltenden Krieg sind widersprüchlich.

Die Internet-Gruppe Access Now nennt das Kappen der Kommunikation den bislang längsten ununterbrochenen Blackout dieser Art, den die Welt jemals erlebt hat. Die äthiopische Regierung, die Journalisten Reisen nach Tigray verboten hat, begründet die Unterbrechung mit Sicherheitserfordernissen.

Blackout förderte brutales Vorgehen der Soldaten

Menschenrechtsexperten zufolge hat der Blackout ein brutales Vorgehen von Soldaten begünstigt: Sie hätten sich sicher gefühlt, dass ihre Verbrechen nicht an die Außenwelt gelangen. Allen Konfliktparteien werden Gräueltaten vorgeworfen, insbesondere aber eritreischen Kräften, die eine wahre Kampagne der Tötungen, Vergewaltigungen und des gezielten Aushungerns von Menschen betrieben haben sollen und die sich weiter in manchen Gebieten in Tigray aufhalten. Eritrea hat keinen Anteil an der Friedensvereinbarung und erschwert deren Umsetzung.

Der am 2. November in Südafrika unterzeichneten Vertrag verpflichtet die äthiopische Regierung, grundlegende Dienstleistungen in Tigray wiederherzustellen. Nach Monaten von Restriktionen trifft wieder humanitäre Hilfe in der Region ein, und mehrere Orte sind wieder ans nationale Stromnetz angeschlossen. In manchen Gegenden läuft auch der Bankenservice wieder.

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Jemen, Afghanistan, Äthiopien, Israel, Mali und Ukraine: In all diesen Regionen herrscht aktuell Krieg.

Während Russlands Invasion: Die fünf vergessenen Kriege

Der Einmarsch Russlands in der Ukraine hat die Bedrohung des Krieges auch in Europa wieder ins Bewusstsein gebracht. Dabei gibt es weltweit Hunderte bewaffnete Konflikte, Krisen und Kriege. Viele davon dauern bereits Jahre an – und werden durch den russischen Angriff in der Ukraine noch verschärft.

Manche Gebiete weiter ohne Telefonverbindung

Aber Gebiete unter der Kontrolle von Kämpfern aus Tigray wie die Regionalhauptstadt Mekele sind weiter ohne Telefonverbindungen zur Außenwelt. Und sogar in Gegenden, wo sie wiederhergestellt wurden, sind sie nicht stabil, kommen Anrufe oft nicht durch.

Einem Tigrayer, der in der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba lebt, ist das gelungen, er hat am vergangenen Freitag mit seinem Vater in Shire telefoniert, erstmals seit Mai 2021. „Wir waren sehr besorgt um unsere Familien, so war es sehr gut, mit ihm zu sprechen“, schildert er. „Zugleich sind wir sehr traurig zu hören, dass einige unserer Verwandten im Krieg gestorben sind. Es ist kein völliges Glücksgefühl.“

Derweil warten Menschen, die Familien in noch von Tigray-Kräften kontrollierten Gebieten haben, weiter darauf, von ihren Angehörigen zu hören – mit Hoffnung und mit Bangen. „Der Frieden ist gut, aber ich konnte immer noch nicht mit meinen Eltern sprechen“, sagt ein Tigrayer in Addis Abeba. „Sie leben in der Umgebung von Adigrat und Zalambessa. Es waren viele eritreische Soldaten dort, daher fürchte ich, was während der jüngsten Kämpfe mit ihnen geschehen ist.“

RND/AP

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