Streiks in Großbritannien – in der Krise vereint
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/R4ZP6BNDQVE2JBX4EGYWZYRDY4.jpeg)
Demonstrierende protestieren auf der Downing Street gegen das neue Streikgesetz.
© Quelle: Jordan Pettitt/PA Wire/dpa
London. Zunächst war es nur eine kleine Gruppe von Lehrern, die sich am Mittwochvormittag bei strahlendem Sonnenschein vor dem Gebäude der BBC im Zentrum Londons versammelte, um gemeinsam Richtung Westminster zu marschieren. Dann jedoch schwoll der Protestzug von Minute zu Minute an, wurde mehrere Kilometer lang. Immer mehr Menschen kamen hinzu, viele gemeinsam mit ihren Kindern. Es lag Aufbruchstimmung in der Luft. Dicht an dicht gedrängt, machten sie durch die Schriftzüge auf ihren Schildern klar, warum sie auf die Straße gingen: „Rettet unsere Schulen“ war dort zu lesen; oder auch „Tories raus“.
Die Streiks in Großbritannien erreichen einen neuen Höhepunkt; in einem Land, in welchem Gewerkschaften jahrelang als verpönt galten. Nach Wochen und Monaten mit Demonstrationen, bei denen vor allem Ausstände der Pfleger und des Notfallpersonals im Fokus der medialen Aufmerksamkeit standen, fand am Mittwoch auf der Insel der größte Streik seit über zehn Jahren statt. Mehrere Hunderttausend Lehrer, Lokführer, Beamte, Dozenten und Sicherheitskräfte diverser Gewerkschaften gingen landesweit auf die Straße, um für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen zu kämpfen.
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/A7I55WNMXJEQXITGWFLXT7JM6M.jpeg)
Helen Kelly (55) ist Lehrerin im Osten Londons und nimmt an den Streiks teil
© Quelle: Susanne Ebner
Bereits am Montag demonstrierten Hunderte Menschen
Dicht an dicht gedrängt machten Hunderte Menschen bereits am Montagabend in der Downing Street durch die Schriftzüge auf ihren Schildern klar, warum sie auf die Straße gingen: „Schützt das Recht zu streiken“ war dort zu lesen; oder auch „Tories raus“. Nach Wochen und Monaten mit Demonstrationen, bei denen vor allem Ausstände der Pflegerinnen und Pfleger und des Notfallpersonals im Fokus der medialen Aufmerksamkeit standen, hat die Lage in Großbritannien eine neue Eskalationsstufe erreicht. Am Mittwoch ist der größte Streik seit über zehn Jahren geplant. Voraussichtlich rund eine halbe Million Lehrkräfte, Lokführer, Beamte, Universitätsdozentinnen, -dozenten und Sicherheitskräfte mehrerer Gewerkschaften werden am 1. Februar landesweit auf die Straße gehen. Sie demonstrieren überdies gegen ein geplantes Gesetz, welches das Recht zu streiken einschränken soll.
Angesichts des Ausmaßes der Arbeitskämpfe werden erneut Vergleiche mit dem „Winter des Unbehagens“ in den Jahren 1978 und 1979 gezogen, für Britinnen und Briten ein geflügelter Ausdruck. Damals legten Tausende im Kampf um bessere Löhne ihre Arbeit nieder. Müllberge und der Stillstand des Transportwesens führten 1979 schließlich zum Sturz der Labour-Regierung. Aus Sicht der Öffentlichkeit wurden die Gewerkschaften damals zunehmend zum Beherrscher von Land und Wirtschaft. Die neu gewählte konservative Premierministerin Margaret Thatcher schränkte ihre Macht daraufhin massiv ein.
Angesichts der Belastungen nicht wertgeschätzt
Auch diesmal könnten die Streiks den Abstieg der Regierung beschleunigen, betonen Expertinnen und Experten, allerdings unter anderen Vorzeichen. Schließlich hat sich der Unmut im öffentlichen Dienst angebahnt. War dieser durch viele Sparmaßnahmen nach zwölf Jahren Tory-Regierung am Limit, hat die Pandemie, gefolgt von der Inflation und der Krise der steigenden Lebenshaltungskosten, das Fass schließlich zum Überlaufen gebracht. Die staatlichen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer fühlen sich angesichts der Belastungen, mit denen sie konfrontiert werden, nicht wertgeschätzt. Und: Viele Britinnen und Briten verstehen das.
Früher nutzten die Tories Streiks, um gegen die oppositionelle Labour-Partei wegen ihrer Nähe zu den Arbeitnehmervertretern Stimmung zu machen. „Dieses Mal haben sich die Sympathien der Öffentlichkeit jedoch verschoben. Es ist nicht mehr so einfach, den Buhmännern der Gewerkschaften die Schuld zu geben“, kommentierte die Onlinezeitung „Politico“ am Dienstag die Lage. Laut dem Meinungsforschungsinstitut YouGov unterstützen 65 Prozent der Britinnen und Briten die Streiks des Pflegepersonals, immerhin 47 Prozent jene der Lehrkräfte.
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/7WWLQJJHJZB3VA2SJ27C44MUAY.jpg)
Brandenburger Lehrerin startet Petition gegen Verbeamtung von Quereinsteigern
Der Reformvorschlag der Landesregierung in Brandenburg, Quereinsteiger mit Bachelorabschluss zu verbeamten, stößt bei vielen Lehrkräften auf Kritik. Sie fürchten, dass ihr Beruf dadurch entwertet wird. Eine Lehrerin geht nun aktiv gegen die Pläne der Landesregierung vor.
Viele Menschen klagen zwar über die Arbeitsniederlegungen, dass die britische Bevölkerung jedoch nicht lauter aufbegehrt, sei tatsächlich bemerkenswert, betonte auch Joelle Grogan von der Denkfabrik UK in a Changing Europe gegenüber dieser Zeitung. Schließlich galten Gewerkschaften auf der Insel lange als verpönt. Sie begründet die Unterstützung damit, dass Arbeiterinnen und Arbeiter im öffentlichen Dienst, allen voran Krankenpflegerinnen, -pfleger sowie Lehrerinnen und Lehrer, in Großbritannien gesellschaftlich hoch angesehen seien – auch infolge der Pandemie. „Während der Lockdowns haben die Briten gesehen, was für eine wichtige Aufgabe sie übernehmen.“
:format(webp)/cloudfront-eu-central-1.images.arcpublishing.com/madsack/DX2FF3T5ZZGELFVFYTON6OBUIU.jpeg)
Ronak Giuntini (41) ist Lehrerin im Zentrum Londons.
© Quelle: Susanne Ebner
Dies bestätigt auch Ronak Giuntini, eine Lehrerin, die am Mittwoch an den Demonstrationen in London teilnahm. „Die meisten Eltern unterstützen uns. Nach der Phase der Lockdowns, in welcher sie ihren Kindern beim Online-Unterricht helfen mussten, wissen sie, dass dies kein leichter Job.“ Ihr sei sich aber auch bewusst, dass manche Medien ein anderes Bild zeichnen. Die Boulevardzeitung „Daily Mail“ bezeichnete die Ausstände am Mittwoch als „zynisch“ und als „Verrat an unseren Kindern“.
Rishi Sunak beharrt auf seinem Standpunkt
Auch der 36-jährige Matthew, der an einer Grundschule im Nordosten Londons unterrichtet, spürt Verständnis vonseiten der Eltern für die Streiks. „Die Leute sehen ja, dass der öffentliche Dienst im Allgemeinen zusammenbricht. Das gilt ja nicht nur für die Schulen“, sagte er. „Ich unterrichte seit knapp zehn Jahren, und seitdem ist der Druck immer mehr gestiegen.“ Es stehe immer weniger Personal zur Verfügung. „Aufgrund der wirtschaftlichen Lage nimmt die Not der Kinder zu. Es wird schwieriger, ihnen das Maß an Fürsorge zu geben, das sie verdienen.“ Deshalb hat auch er sich dazu entschieden zu streiken, für höhere Löhne, aber vor allem für bessere Arbeitsbedingungen. „Ich hoffe, dass wir Erfolg haben werden.“
Bislang jedoch ist kein Ende der Streiks in Sicht. Premierminister Rishi Sunak beharrt auf seinem Standpunkt, dass die geforderten Lohnerhöhungen nicht möglich seien, weil sie die Inflation noch weiter in die Höhe treiben würden. Gleichzeitig haben die Tories einen Gesetzesvorschlag ins Parlament eingebracht, der nun vom Oberhaus geprüft wird. Er soll die Gewerkschaften zwingen, eine Grundversorgung sicherzustellen, etwa bei Rettungs- und Sicherheitskräften oder der Bahn. „Wie hoch diese sein muss, könnte die Regierung dann im Alleingang bestimmen“, erklärte Joelle Grogan. In den meisten Ländern Europas sei das anders geregelt. Laut Expertinnen und Experten spielen die Tories überdies auf Zeit. Sie hofften darauf, dass der Rückhalt für die Streiks in der Bevölkerung sinkt, je länger sie dauern. Britische Gewerkschaften haben indes weitere Ausstände angekündigt, im März und im April.