Sterbehilfe erlaubt: Was das Urteil in Karlsruhe im Detail bedeutet
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Andreas Voßkuhle, Vorsitzender des Zweiten Senats beim Bundesverfassungsgericht, verkündet das Urteil zum Sterbehilfe-Verbot.
© Quelle: Uli Deck/dpa
Karlsruhe. Die einen wünschen sich nichts mehr als ein selbstbestimmtes Sterben. Die anderen warnen eindringlich vor einer Gesellschaft, in der sich alte und kranke Menschen zum Suizid gedrängt fühlen. Mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist die emotional geführte Debatte um Möglichkeiten der assistierten Selbsttötung nicht beendet. Viele Fragen sind jetzt offen. Aber die Karlsruher Richter reißen am Mittwoch Schranken ein, die der Politik ein Zurück nicht mehr erlauben. (Az. 2 BvR 2347/15 u.a.)
Karlsruhe erklärt Verbot assistierter Sterbehilfe für verfassungswidrig
Das in Deutschland geltende Verbot, sterbewilligen Menschen zur Selbsttötung Medikamente zu verschaffen, ist verfassungswidrig und nichtig.
© Quelle: Reuters
Worum genau geht es?
Im Dezember 2015 verbietet der Gesetzgeber Sterbehilfe als Dienstleistung. Der neue Paragraf 217 im Strafgesetzbuch sieht bis zu drei Jahre Haft vor. Strafbar macht sich, "wer in der Absicht, die Selbsttötung eines anderen zu fördern, diesem hierzu geschäftsmäßig die Gelegenheit gewährt, verschafft oder vermittelt". Das soll professionellen Sterbehelfern das Handwerk legen, die tödliche Medikamente stellen oder eine Sterbewohnung organisieren - oft gegen Bezahlung. Sterbehilfe soll nicht gesellschaftsfähig werden.
Wie wirkt sich das Verbot aus?
Der umstrittene Hamburger Verein Sterbehilfe Deutschland von Ex-Justizsenator Roger Kusch legt seine Aktivitäten weitgehend auf Eis - und klagt. Bis 2015 hatten sich laut Vereinsstatistik 254 zahlende Mitglieder das Leben genommen. Schwerkranke Menschen, die auf die Unterstützung von Sterbehilfe Deutschland und anderer Suizidhelfer vertraut hatten, trifft das Verbot mit. Aus dem Wissen, zur Not selbst die Reißleine ziehen zu können, habe er Kraft zum Durchhalten geschöpft, sagt der krebskranke Horst L. im April 2019 als Kläger in der Verhandlung. Nun sei die Gelassenheit dahin.
Was haben die Verfassungsrichter entschieden?
Das Sterbehilfe-Verbot verstößt gegen das Grundgesetz. In einem enorm weitgehenden Urteil arbeiten sie ein Recht des Einzelnen auf selbstbestimmtes Sterben heraus. "Dieses Recht schließt die Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen", sagt Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle - und sich dafür Hilfe bei Dritten zu suchen. Ohne diese Möglichkeit würde das Selbstbestimmungsrecht eines Menschen mit Sterbewunsch nach Auffassung der Richter "faktisch weitgehend entleert". Die Richter erklären Paragraf 217 deshalb für nichtig. Anders als in den Niederlanden, Belgien und Luxemburg bleibt aktive Sterbehilfe - also die Tötung auf Verlangen - aber verboten.
Warum ist das Urteil für manche ein Tabubruch?
Die Richter sagen ausdrücklich, dass Sterbehilfe-Angebote nicht unheilbar Kranken vorbehalten sein dürfen. Das Recht, selbstbestimmt zu sterben, besteht "in jeder Phase menschlicher Existenz", wie Voßkuhle es formuliert. Dass jemand nicht mehr weiterleben möchte, bedürfe keiner Rechtfertigung. Staat und Gesellschaft hätten das zu respektieren. Das eröffnet selbst völlig gesunden Menschen die Möglichkeit, Sterbehilfe in Anspruch zu nehmen. Außerdem legitimieren die Richter de facto die Aktivitäten der Sterbehilfe-Vereine - mit dem Argument, dass Sterbewillige anderswo keine Unterstützung finden.
Wie reagieren die Sterbehelfer?
Bei einer eigens anberaumten Pressekonferenz in Karlsruhe feiert Kusch den "wunderbaren Tag". "Wir können wieder genauso Sterbehilfe leisten wie bis zum November 2015." Der Verein hatte schon vorher ein Schlupfloch gefunden und den Schweizer Ableger StHD gegründet. Seit 2018 konnten deutsche Sterbewillige einen Angehörigen nach Zürich schicken, der mit tödlichem Medikament und "detaillierter Anleitung" zurückkam. Denn Angehörige und "Nahestehende", die beim Suizid helfen, blieben auch unter Paragraf 217 straffrei.
Welche Möglichkeiten bleiben der Politik?
Suizidprävention und palliativmedizinische Angebote können natürlich ausgebaut werden, um Menschen mit Sterbewunsch einen anderen Weg aufzuzeigen. Außerdem darf der Gesetzgeber die Sterbehilfe regulieren. Die Richter sehen dafür “ein breites Spektrum an Möglichkeiten”. Beispielhaft nennen sie Aufklärungspflichten und eine vorgeschriebene Wartezeit bis zum Vollzug. Suizidhelfer könnten ein Zulassungsverfahren durchlaufen müssen. “Besonders gefahrträchtige Erscheinungsformen der Suizidhilfe” dürften auch verboten werden.
Was bedeutet das Urteil für Ärzte?
Sie sind weiterhin nicht verpflichtet, Suizidhilfe zu leisten - müssen aber keine Strafverfolgung mehr befürchten, wenn sie es aus Überzeugung doch tun. Der Palliativmediziner Matthias Thöns, der ebenfalls in Karlsruhe geklagt hat, ist erleichtert: “Ich kann Patienten in verzweifelten und seltenen Situationen einen Ausweg zeigen und muss sie nicht auf brutale Suizidmethoden verweisen.” Die Bundesärztekammer ist nach wie vor der Auffassung, dass Beihilfe zum Suizid “grundsätzlich nicht zu den Aufgaben von Ärztinnen und Ärzten” gehört. Präsident Klaus Reinhardt kündigte aber “eine innerärztliche Debatte zur Anpassung des ärztlichen Berufsrechts” an. Hier haben die Verfassungsrichter die notwendigen Änderungen angemahnt.
Welche Fragen stellen sich nach dem Urteil noch?
Das Bundesverwaltungsgericht hat 2017 ein aufsehenerregendes Urteil gesprochen: "Im extremen Einzelfall" dürfe der Staat einem unheilbar Kranken ein Betäubungsmittel nicht verwehren, das diesem "eine würdige und schmerzlose Selbsttötung ermöglicht". Das war nicht Bestandteil des Karlsruher Verfahrens. Unter Verweis auf Paragraf 217 lässt Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) aber seit Jahren das zuständige Bundesinstitut sämtliche Anträge kranker Menschen ablehnen - inzwischen mehr als 100. Diese Linie will Spahn auch jetzt weiter beibehalten. Bis die nächste Entscheidung da ist: Nach Klagen abgelehnter Antragsteller hat das Verwaltungsgericht Köln mehrere Verfahren ausgesetzt - und die Fälle in Karlsruhe vorgelegt.
RND/dpa